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Das Bauingenieurstudium in der Schweiz - aktuelle Entwicklungen

In der Schweiz kann das Studium des Bauingenieurwesens (B.Sc.) an einer der beiden eidgenössischen Hochschulen (ETH Zürich, EPFL Lausanne) oder in zehn Studiengängen an den kantonal betriebenen Fachhochschulen erfolgen.

Fachhochschulen betreiben industrienahe Forschung und Entwicklung

Während die ETHs durch den Schweizer Bund finanziert werden, bilden die Träger der Fachhochschulen ein oder mehrere Kantone. Ferner konzentrieren sich die ETHs auf die Grundlagenforschung, während die Fachhochschulen industrienahe Forschung und Entwicklung betreiben.

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Der Schweizer Pavillon lockte die Besucher der Weltausstellung 2022 in Abu Dhabi mit einer spiegelnden Fassade. Foto: Dirk Proske

Inhaltlich richten sich die ETH-Studiengänge an Maturanden und die Fachhochschulen i. d. R. an Studierende mit einem Praxishintergrund durch eine vierjährige Berufslehre im Bauwesen (z. B. Zeichner EFZ) mit einer Berufsmaturität (BMS) bzw. Maturanden oder fachfremde Berufslehren mit einem zwölfmonatigen Praktikum. Jährlich entfallen etwa 40 Prozent der Schweizer Absolventinnen und Absolventen auf die ETHs, während der größere Anteil von ca. 60 Prozent von den Fachhochschulen stammt.

Zahl der Studienanfänger seit 2015 um 40 Prozent gesunken

Die Bauingenieure standen in den vergangenen Jahrzehnten steigenden gesellschaftlichen Ansprüchen an die gebaute Umwelt gegenüber. Zu den klassischen Aufgaben, wie die Erhaltung und Errichtung der Bauwerke, kamen Themen wie Nachhaltigkeit oder Digitalisierung. Gerade aufgrund des Beitrags des Bauwesens zum globalen Klimawandel steht das Bauwesen unter erheblichem Veränderungsdruck. Gleichzeitig müssen weltweit pro Tag Gebäude für ca. 200.000 Menschen errichtet werden – das entspricht etwa der Stadt Genf.

Konkret erwartet man auch für die Schweiz zeitnah einen Wohnungsmangel aufgrund des Zuzugs von Fachkräften und steigenden Flüchtlingszahlen. Diese vielfältigen Aufgaben wurden in den letzten Jahren vornehmlich von der Babyboomer-Generation bearbeitet, die nun langsam von zahlenmäßig kleineren Generationen abgelöst wird. In der Schweiz sind die Eintrittszahlen im Bachelor (B Sc.) Bauingenieurwesen seit 2015 um ca. 40 Prozent gesunken.

Dies ist erheblich, gleichwohl ähnliche Einbrüche auch schon früher aufgetreten sind, wie z. B. in Deutschland von 1999 bis 2008. Der Einbruch dort war auf die schwere Krise der Bauwirtschaft nach dem Bauboom der Wiedervereinigung zurückzuführen. Auch in anderen Ländern wie den USA lassen sich Schwankungen in den Alterskohorten der Bauingenieure von 20 bis 30 Prozent nachweisen. Der aktuelle Rückgang in der Schweiz umfasst allerdings nicht nur Bauingenieure, sondern auch vorgelagerte Handwerksberufe wie Bauzeichner und Maurer.

Nach heutigem Wissensstand wird die Anzahl der Absolventinnen und Absolventen in den nächsten Jahren weiter fallen, was den Fachkräftemangel im Bauwesen verschärfen dürfte. Vermutlich kann man diesen breiten Rückgang nicht allein demografisch und mit Wirtschaftszyklen begründen.

Karrierechancen im Bauingenieurwesen oft nicht im Sichtfeld junger Menschen

Zunächst einmal können junge Menschen heute aus einem viel breiteren Angebot beruflicher Möglichkeiten schöpfen und durch die Informationstechnologie diese Angebote leichter vergleichen als früher. Obgleich das Bauwesen beste Karrierechancen bei fachlicher und persönlicher Weiterentwicklung und inhaltlich zahlreiche sinnstiftende Themen bietet, liegt es deshalb oft nicht im Sichtfeld junger Menschen.

Daneben wird das Berufsbild des Bauingenieurs verschiedentlich in den Medien negativ dargestellt. So fand sich vor einigen Jahren in einer großen deutschen Zeitschrift der folgende wortwörtliche Verweis auf Maupassant: "Immer, wenn es darum geht, eine Stadt, eine Landschaft, etwas Schönes und Großartiges zu verschandeln, sind die Ingenieure schon da, und beflügelt von einem Genius, den man den Geist des Hässlichen nennen könnte, verderben sie alles mit einem einzigen Federstrich." Gelegentlich liest man: "Der Ingenieur ist das Kamel, auf dem der Kaufmann durch die Wüste reitet." Für nach einer beruflichen Zukunft suchende junge Menschen erscheint das Image des Bauwesens damit im Vergleich zu anderen Branchen unattraktiv.

Junge Menschen nehmen auch die große und lang anhaltende Verantwortung der Bauingenieure wahr, die sie von anderen Berufen unterscheidet. So mussten sich nach dem Einsturz der Eishalle Bad Reichenhall die Architekten und Ingenieure, die das Bauwerk vor Jahrzehnten geplant und errichtet hatten, vor Gericht verantworten. In der Schweiz beträgt die Verjährungsfrist für Bauingenieure bei Körperverletzung und Tötung 20 Jahre, wobei die Verjährung nicht von Amts wegen berücksichtigt werden darf. Sie muss also vom Bauingenieur über seine Lebenszeit in solchen Gerichtsverfahren selbst vorgebracht werden.

Einarbeitungszeiten immer seltener umsetzbar

Die hohe Aufgabendichte der Bauwirtschaft bei gleichzeitigem Fachkräftemangel hat zur Folge, dass der Arbeitsdruck in den Unternehmen gestiegen ist. Zeiten für die Weiterbildung und die Einarbeitung von Praktikanten und jungen Mitarbeitenden sind immer seltener umsetzbar. Studierende im Teilzeitmodell, welches sich zunehmend an den Fachhochschulen durchsetzt, bearbeiten im Ingenieurbüro, trotz der Doppelbelastung, häufig Aufgaben mit außerordentlich engen Zeitplänen, was insbesondere im Masterstudium verstärkt zum Abbruch des Studiums führt.

Die Wahrnehmung dieses Berufs mit hoher Verantwortung, enormem Zeitdruck, räumlicher Flexibilität und relativ niedrigen Löhnen im Vergleich zu anderen Branchen führt also nicht nur dazu, dass viele junge Menschen diesen Beruf nicht anstreben, sondern auch dazu, dass diejenigen, welche für das Berufsfeld gewonnen werden konnten, dieses wieder verlassen oder sich fachtechnische Nischen suchen. Verstärkt kann man auch beobachten, dass in die Schweiz zugewanderte Ingenieurinnen und Ingenieure wieder in ihre Heimatländer abwandern, wobei die weltweiten wirtschaftlichen Schäden durch Covid-19 diesen Prozess verzögert haben.

Des Weiteren verhält sich aufgrund des gestiegenen gesellschaftlichen Wohlstands der letzten Jahrzehnte die neu in den Beruf startende Generation zum Arbeitsleben anders als die Babyboomer. Während für Letztere sehr oft hohe Beschäftigungsgrade mit Überzeiten die Norm waren, setzt sich heute bei der jungen Generation in der Schweiz i. d. R. ein Beschäftigungsgrad unter 100 Prozent durch. Es wird also insgesamt nicht nur weniger Fachkräfte geben, diese werden auch weniger arbeiten. Gleiches lässt sich auch in anderen Sektoren beobachten, zum Beispiel in der Medizin.

Finanziell gesteuerte Hochschulen durch ausbleibende Studierende unter Druck

Das Ausbleiben von Studierenden setzt die finanziell gesteuerten Bildungsinstitutionen zusätzlich unter Druck. Sie passen daher die Bildungsangebote an zeitgemäß erscheinende Berufsfelder an und wenden sich langsam von der klassischen Ingenieursausbildung ab. Parallel entstehen hoch spezialisierte Studiengänge. Dieses Konzept kann erfolgreich sein, wie die Einführung des Master of Science in Virtual Design and Construction (VDC) an der Fachhochschule Nordwestschweiz eindrücklich zeigt.

Diese neuen Studiengänge führen aber nicht oder kaum zu einer Steigerung der Gesamtzahl, sondern eher zu einer Kannibalisierung der klassischen Bauingenieurstudiengänge. Für die klassischen Ingenieurstudiengänge erfolgt aufgrund der sinkenden finanziellen Ressourcen dagegen ein Abbau an Studientiefe, wie zum Beispiel die Einschränkung des Angebots an Wahlpflichtfächern. Der verfügbare Nachwuchs klassisch ausgebildeter Bauingenieurinnen und Bauingenieure verengt sich damit noch weiter.


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Attraktive Arbeitgeber
im Bauingenieurwesen


Hier besteht sogar die Gefahr, dass langfristig benötigte Bildungsketten für den gesellschaftlich systemrelevanten Bereich des Bauwesens dauerhaft verloren gehen. Sollte dies einmal eingetreten sein, werden die Bildungsketten nur schwerlich wieder aufgebaut werden können. Die Systemrelevanz des Bauwesens wird auf bildungspolitischer Ebene und teilweise auf Ebene der Hochschulverwaltungen unterschätzt.

Es besteht die Gefahr, dass sich Entwicklungen wiederholen, bei denen die Politik an den gesellschaftlich formulierten Herausforderungen gescheitert ist. Auch diese Entwicklung lässt sich in anderen Ländern beobachten: So kritisierte Prof. Dr.-Ing. Norbert Gebbeken, Präsident der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau, Anfang Februar 2023 die Bayerische Staatsregierung und ihre mangelnde Gesprächsbereitschaft zu den Vorschlägen zum nachhaltigen Bauen aus der Branche.

Unter dem Druck der hohen Auftragszahlen, des Fachkräftemangels und des bildungspolitischen Umfelds sucht die Baubranche selbst nach Lösungen. Diese bestehen häufig aus der Vergabe von Subaufträgen ins Ausland und der Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Diese Entwicklung stellt eine Schwächung der inländischen Kompetenz im Bereich des Bauwesens dar. Gleichwohl gibt es aber auch Firmen, die Umschulungen von Fachkräften anderer Branchen für spezifische Belange unterstützen oder die Zusammenschlüsse mit einem gemeinsamem Personalpool bilden.

Fazit: Nachhaltige und schöne Bauwerke haben ihren Preis

Als Fazit lässt sich feststellen: Der Beruf des Bauingenieurs steht in der Schweiz in einem harten Wettbewerb um das Interesse junger Menschen. Gleichzeitig steht das Berufsbild vor enormen Herausforderungen und Veränderungen wie der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit. Erkennbar ist schon heute, dass die Politik sich eher auf die Aufgabenformulierung als die Lösungsunterstützung konzentriert. Wohin das führen kann, sieht man auf dem weltweiten Baumarkt: Während vor wenigen Jahrzehnten europäische und amerikanische Baufirmen große Infrastrukturprojekte in den Entwicklungsländern umsetzten, wird dies heute zunehmend von chinesischen und asiatischen Baufirmen getragen. China ist schon heute die Nation mit den meisten Brücken.

Bauingenieure prägen in außergewöhnlicher Form und Umfang das Leben in unserer Gesellschaft. Dies jungen Menschen zu vermitteln und ihr Interesse bei gleichzeitiger Verbesserung der Attraktivität des Berufs zu wecken, ist unabdingbar für die Zukunft des Bauberufs in der Schweiz. Die Attraktivität des Berufs muss durch den gemeinsamen zeitgemäßen Auftritt der Baubranche in den Medien und der Öffentlichkeit, durch eine der Verantwortung und den Anforderungen des Berufs gerechte Entlohnung und durch realistische Zeitpläne in der Baubranche erhöht werden.

Darüber hinaus müssen die Auftraggeber davon überzeugt werden, dass sichere, nachhaltige und langlebige, permanent verfügbare und schöne Bauwerke ihren Preis besitzen. Die hervorragende fachliche Ausbildung der Bauingenieure ist der Beitrag, den die Hochschulen dazu liefern müssen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen die Hochschulen adäquat finanziell ausgestattet sein. Gerade die Schweiz mit ihrer außerordentlich reichen Baugeschichte – es sei hier nur auf die herausragenden Brücken von Robert Maillart und Christian Menn oder die Schalentragwerke von Heinz Isler verwiesen – muss ein Interesse daran besitzen.

Die Baubranche muss sich vielmehr wie die Fassade des Schweizer Pavillons auf der letzten Weltausstellung in Abu Dhabi verstehen (siehe Bild): Jeder Besucher erscheint und bewegt sich mit seinem Schirm auf der spiegelnden Fassade. Je mehr Besucher kommen, umso interessanter wird die Fassade als Eingang. Dadurch lockt sie die Besucher ins Gebäude und zieht weitere Interessenten an. Aber auch im Bauwerk muss sich diese Attraktivität fortsetzen, um die Besucher nicht zu enttäuschen.


(Dieser Beitrag ist in der Ernst & Sohn Sonderpublikation "Attraktive Arbeitgeber im Bauingenieurwesen" im April 2023 in gedruckter Form erschienen.)