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Das Heinzelmännchen-Komplott oder was wir von ihnen lernen können

Verfasst von: Dr. Stefan Nixdorf, agn Niederberghaus & Partner, Ibbenbüren
Veröffentlicht am: 26. Jan. 2023
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Augen auf – Traum vorbei. August Kopisch schreibt 1836 in seiner Ballade: „Wie war zu Cölln es doch vordem, mit Heinzelmännchen so bequem! Denn, war man faul, man legte sich – hin auf die Bank und pflegte sich.“ Ähnliche Sagen gibt es weltweit, wie das „kleine Volk“ von Hawaii, die Menehune. Sie alle sind Lebewesen, die magische Kräfte besitzen sollen. Als hervorragende Baumeister vollbringen sie über Nacht wahre Meisterwerke. In unserer Ballade jedoch verschwinden die Heinzelmännchen plötzlich, da die neugierige Schneidersfrau unbedingt die fleißigen Kerle sehen will. Die Helferlein kehren nicht zurück.

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Bild 1: Gestern bereits für ein Morgen entworfen: die NÖ-Arena in St. Pölten als Verbindung aus Tradition und Moderne – Wandelbarkeit und Umnutzungsfähigkeit mit Aktivierung regenerativer Energien

Dieser Mythos hat mehr mit Nachhaltigkeit zu tun, als man auf den ersten Blick vermutet. Wie es scheint, haben wir Menschen den kindlichen Glauben noch nicht verloren, dass kleine unsichtbare Wesen es schon richten werden und wir abwarten können, bis die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz unserer Umwelt von Geisterhand umgesetzt werden. Diese Naivität verwundert, denn die Herausforderung für unsere Umwelt haben wir eigentlich schon mit verschmutzten Flüssen und dem Waldsterben vor Jahrzehnten erkannt.

Rückblick – die ersten Schritte in Richtung Nachhaltigkeit

Am 1. November 1977 trat auf Grundlage des Energieeinsparungsgesetzes die „Verordnung über energiesparenden Wärmeschutz bei Gebäuden“ in Kraft. In deren Folge wurden unzählige Planungsvorgaben entwickelt und die Anforderungen an Bauwerke verschärft. Seit fast 50 Jahren wird also versucht, den Bausektor energetisch zu optimieren. Mittlerweile ist die Bearbeitung eines Bauprojekts fast so komplex wie die einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit und die Beantwortung der Frage „Wie?“ mindestens so aufwendig wie die des „Was?“.

Im ersten Schritt ging es um die Verbesserung der Gebäudesubstanz, der zweite umfasste die Integration von Gebäudetechnik und weitergehend ihre Optimierung. Mit dem dritten Schritt sollten wir jetzt einen echten Systemwechsel versuchen, bei dem es darum geht, frei nach Peter Drucker „die richtigen Dinge zu tun, statt die Dinge nur richtig zu tun“.

Was das heißt? Zur Erklärung ein einfaches Rechenbeispiel: Zwar verbrauchen wir pro Flächeneinheit (Wohnraum/Bürofläche/Nutzfläche) nur noch etwa halb so viel Energie wie damals – doch benötigen wir nun pro Person nahezu doppelt so viel Fläche. Nach fast einem halben Jahrhundert der Optimierung dürfen wir uns mit einer Nullrechnung nicht begnügen.

Status quo: Nachhaltigkeit ist keine Mode (mehr) oder von der Frage zum Imperativ

Das Motto von Thomas Rau, dem Wegbereiter der Madaster-Idee, lautet: „Lasst uns tun, was wir tun müssen, nicht was wir tun können.“ Es drückt aus, dass die Notwendigkeiten klimapolitischen Handelns so weit vorangeschritten sind, dass unsere Optionen keine Frage des Wann sind. Denn in der Ausgestaltung politischer Werbebotschaften und der Berichterstattung der Medienscheint diese Auffassung längstens ein Imperativ. Folgt nun also die Umsetzung?

Der Werkzeugkasten – Instrumente und Lösungen

Seit über 20 Jahren darf ich als Architekt Sport- und Veranstaltungsstätten planen und begleiten. Dabei verfolgt unser Planungsteam einen holistischen Ansatz, welcher der baumeisterlichen Gesamtverantwortung von Architekt:innen und Ingenieur:innen, Spezialist:innen und Generalist:innen entspricht.

Bislang wurden bei dem Bau von Stadien und Arenen überwiegend klassische Konzepte umgesetzt. Anwendung fanden eher handwerkliche Selbstverständlichkeiten wie die Verwendung von Regenwasser zur Bewässerung des Rasens, inklusive einer Speicherung in Zisternen, oder die Nutzung als Grauwasser in der Abwasserfunktion der WC-Anlagen. Auch wasserlose WC-Urinale stehen in der Systemauswahl, um aufwendige Ringwasserleitungen und deren Frostsicherheit durch Dämmung und Begleitheizung abzuwägen.

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Bild 2: Virtuelles Stadion, am Beispiel BBBank Wildpark Karlsruhe. Quelle: EIBS/BAM Sport

Doch es gab in den vergangenen Jahren auch andere Schritte in Richtung Nachhaltigkeit: Stadionbauten (Bild 2) ergänzen mit ihrer architektonischen Bedeutung und funktionalen wie kulturellen Inhalten nicht nur die städtebauliche Visitenkarte einer Stadt, sondern können eine klimafreundliche Vorbildrolle übernehmen. Sie verfügen über sehr große Dachflächen (Bild 1) und ihre Aktivierung zur Gewinnung solarer Energie ist mittlerweile weit verbreitet.

Durch den Einsatz von LED-Flutlichttechnik spielt der Stromverbrauch heute eine geringere (wenn auch nach wie vor bedeutsame) Rolle als in der Vergangenheit. Die Optionen zur Inszenierung von Spielsituationen bieten hier spannende Möglichkeiten mittels Farben, unterschiedlicher Helligkeiten und bereichsweiser Ausleuchtung, wie man eindrucksvoll bei den European Championships München 2022 im alten Olympiastadion erleben durfte. Für das Stadionflutlicht kann zukünftig die Nutzung mobiler Batteriespeicher (Bild 4) als temporäre Stromquelle eine Lösung sein, da dieser die Vorhaltung einer komplexen Elektroinfrastruktur überflüssig macht und die nachhaltige Beladung der Speicher an diversen Standorten und aus regenerativen Quellen ermöglicht.

Und es lohnt sich, größer zu denken: Energiekonzepte, die ressourcenschonend und nachhaltig ausgelegt werden, finden im sonstigen Bausektor häufiger und selbstverständlicher Anwendung als im Stadionbereich. Hier ein paar übergeordnete Beispiele (Bild 3):Die passive Nachtauskühlung von Gebäudeteilen statt aktivem Kühlen während des sommerlichen Wärmeeintrags oder die durchgängige Wärmerückgewinnung in Anlagen der technischen Gebäudeausstattung. Ein hydraulischer Abgleich medienführender Systeme (Heizung etc.), um den Pumpenaufwand zu mindern, ist schon gesetzlicher Standard und die Bauteilaktivierung (BTA) zur Nutzung der Gebäudemasse durch Integration von Niedertemperatursystemen innerhalb von Massivdecken (iSv Heizen und Kühlen!) bietet Lösungen zur Energieeinsparung.

Der Einsatz von Phase-Change-Material (PCM) als Speichermedium, um die frei werdende überschüssige Energie durch einen Aggregatswechsel (Eiswürfeleffekt) effektiv zu nutzen (vergleichbar mit dem thermodynamischen Grundprinzip eines Eisspeichers), oder eine Absorptionskältemaschine (AKM) als thermischer Verdichter (Kühlschrankprinzip) zur Umwandlung von Wärme in Kälte und/oder umgekehrt sowie das Blockheizkraftwerk können im Zusammenspiel von Wärmeerzeugung und Stromverbraucheine wichtige Rolle übernehmen. Die bekannte Windenergie (auch Kleinwindkraftanlagen im urbanen Standort) oder Photovoltaik zur Stromerzeugung insbesondere in Kombination mit Speichersystemen sowie die Solarthermie zur Unterstützung der Wärmeversorgung etc. finden Einsatz im Energiekonzept.

Effiziente Lüftungssysteme gehören aufgrund der Gebäudetypologie Versammlungsstätte schon immer zur Grundausstattung (dann ist es in Zeiten von Corona nur noch eine Frage ausreichenden Luftwechsels).

All diese Maßnahmen liegen bereits im Werkzeugkasten moderner Energierezepte. Seit der Gaskrise 2022 ist die Nutzung von Wärmepumpen (Luft-Luft oder Luft-Erdregister) scheinbar in aller Munde. Dagegen könnte eine Biogas Hybrid-Wärmepumpe bereits heute viel stärker zum Einsatz kommen. Erdsonden zur geothermischen Nutzung sind bekannt, vielleicht auch grüner Wasserstoff oder die Brennstoffzellentechnik als zukünftige Antriebsoptionen sind wahrscheinlich zumindest einmal gehört worden. Doch wie so oft kommt es auf die Rezeptur und das ganzheitliche Zusammenwirken von Hochbau (Architektur) und Energietechnik an.

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Bild 3: Der moderne Werkzeugkasten nachhaltiger Energiekonzepte – auf die Rezeptur kommt es an. Quelle: agn Niederberghaus & Partner GmbH

Neue Ansätze wie das Energiekonzept LowEX-Ring (eine Art SMARTGrid für vernetzte Liegenschaften) unserer Entwickler in der technischen Gesamtplanung sind neue Wege im wechselseitigen Nutzen von Energieströmen.

Ebenso bieten Energy-on-Demand-Konzepte iSv-Contracting-Modellen Versorgungsalternativen wie die mobilen Batteriespeicher. Es sind Plug-in-Systeme, die bedarfsgerecht reagieren können bzw. veranstaltungsbezogen geordert werden, um die stationäre Energievorhaltung zu vermeiden.

Das Internet of Things (IoT) wird in Zukunft auch vor Arena und Stadion keinen Halt machen. Diese Vision umfasst intelligente Gebäudesteuerungs- und Energiemanagementsysteme, die automatisiert und bedarfsgerecht Nutzungsintensität erkennen und Überschuss und Bedarf eines parallelen Veranstaltungsbetriebs ausgleichen. Damit werden ehemalige Sportstätten aus „Schweiß, Stahl und Beton“ allerdings komplexe Hochleistungsmaschinen.

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Bild 4: Energiekonzept LowEx-Ring als liegenschaftsübergreifender Systemgedanke. Quelle: agn Niederberghaus & Partner GmbH

Realitätscheck – Perspektiven und Hindernisse

Die genannten Maßnahmen bedeuten durchgehend Investitionen in die Reduzierung der Betriebskosten. Aktuelle Verdopplungen, oder gar Vervierfachungen, des Gas- und Strompreises fordern die Transformation und die Fortsetzung der Bauwende. Auf Basis der enorm gestiegenen Betriebskosten werden Entscheidungen heute anders getroffen als früher: Der einfache Abgleich von Investitionsbudget vs. Betriebskosten ist nicht mehr zeitgemäß, da das Verhältnis von Baukosten zu Lebenszykluskosten (LZK), die u. a. auch die Betriebskosten und den Rückbau beinhalten, mittlerweile bei 20/80 steht.

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Bild 5: Circular Stadium: grüner Batteriespeicher als temporäre Stromquelle z. B. für das Stadionlicht. Quelle: agn Niederberghaus & Partner GmbH

Ein Hindernis für die Energieeffizienz der Sport- und Veranstaltungsstätten liegt in den Nutzungsszenarien. Die Anforderungen an diesen Gebäudetypus sind geprägt durch stark schwankende Nutzungsintensitäten von Großsportereignissen (dem Volllastfall) über den mittleren Veranstaltungsbetrieb im Alltag bis zum Grundlastfall (montags 6:30 Uhr ohne Betrieb).

Es ist daher essenziell für den Projekterfolg, dass die Betreiber:innen vor Planungs- und Umsetzungsbeginn eine klare Idee des künftigen Nutzungsprofils haben (z. B. eine stärkere Multicodierung von Businessclub und Logen sowie Tribüne und Zuschauerumlauf), damit spätere Szenarien detailliert geplant werden können und große Arenen nicht zu weißen Elefanten (= Investitionsruinen) werden, in denen ungenutzt graue Energie und Sekundärrohstoffe lagern.

Circular – vom weißen Elefanten zur Wertstoffbank

Natürlich ist das klimatechnisch beste Gebäude immer noch das, welches man nicht baut, denn den Betriebsverbrauch oder die graue Erstellungsenergie verwendeter Materialien kann man nicht auf null reduzieren.

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Bild 6: Größtes Stadion-Holzdach der Alpenregion mit regionalen Materialien und rückbaufähigen Konstruktionen, NÖ-Arena in St. Pölten.

Oft wurden Nachhaltigkeitsfragen daher mit einem zweifelnden „Ja, aber …“ beantwortet. Und noch immer treffen moderne Lösungen auf Unkenntnis (hinsichtlich vorhandener Möglichkeiten) oder mangelndes Vertrauen (z. B. in die Konstruktion oder das Material). Viele Branchenexpert:innen sagen nunmehr zu Recht: „Kein ‚Ja, aber‘ mehr!“ Hier sind jetzt Kompetenz, Leidenschaft und Überzeugungskraft der Bauschaffenden gefordert.

An dieser Stelle bietet das Konzept Circular Stadium (Bild 5) die Chance, von Beginn an der Verantwortung und Vorbildfunktion eines zentralen Akteurs öffentlichen Interesses nachzukommen (Bilder 6, 7). Über Jahrzehnte hinweg sind in unserer Altbausubstanz enorme Materialdepots entstanden, die – abhängig von Material und Konstruktionsweise – großes Potenzial als zukünftige Quelle für Sekundärrohstoffe aufzeigen. Ihre Erschließung kann einen wichtigen Beitrag zur Schonung natürlicher Ressourcen leisten. Dies fordert aber ein Umdenken und Kompromissbereitschaft.

Was wir im nächsten Schritt tun können, ist, die verwendeten Materialien zu dokumentieren und dafür zu sorgen, dass sie zunächst als Depot oder gar als Wertstoffbank erkannt und genutzt werden. Der Urban-Mining-Index, eine Systematik zur quantitativen Bewertung der Kreislaufpotenziale von Baukonstruktionen in der Neubauplanung, dient dabei als verlässliches Werkzeug. So konnten wir bspw. mit unserem Modellprojekt Rathaus Korbach umfassende Erkenntnisse zur Wiederverwendbarkeit mineralischer Baustoffe gewinnen.

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Bild 7: Einfache Erweiterung der Stadionkapazität (8000/13.000 Zuschauer) temporär wie permanent möglich, NÖ-Arena in St. Pölten. Quelle: Matthias Fischer, Alpine Bau

Cradle to Cradle beginnt nicht erst in der Planung, sondern mit der Grundhaltung aller Beteiligten zum Bauen selbst. Voraussetzung sind rückbaufähige Konstruktionen, die eine Rückführung in den baulichen Kreislauf ermöglichen. Darüber hinaus ist die Auswahl von ressourcenschonenden Materialien wichtig, die weniger graue Energie binden. Der Maxime „Gebrauchen statt verbrauchen“ folgend, kann das Maß vorgefertigter Elemente die Bauqualität nicht nur steigern, sondern auch die Wiederverwendungsfähigkeit erhöhen.

3D-Raummodule können die Bauzeit verkürzen und die bauleistende Arbeitskraft am regionalen Ursprungsstandort halten. Darüber hinaus gibt es erste Überlegungen zu sog. „Product as a Service“-Modellen, die die Baustoffe mit Rücknahmegarantien versehen. Und es werden in Zukunft weitere spannende Geschäftsmodelle entstehen.

Was wir von den Heinzelmännchen lernen können

Wahrscheinlich sind die Cöllner Männchen nicht verschwunden, weil sie entdeckt wurden. Es handelt sich wohl vielmehr um ein Heinzelmännchen-Komplott, das bedeutet die Verweigerung all jener Wesen, denen wir das Handeln überlassen wollten. Von allen guten Geistern verlassen, bleibt uns nur die von Kopisch so treffend formulierte Wehmut und die Erkenntnis, dass Initiative sich wieder lohnt: „O weh! Nun sind sie alle fort / Und keines ist mehr hier am Ort!/ Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn, / Man muss nun alles selber tun! [...] Ach, dass es noch wie damals wär! / Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!“ Nachhaltiges Handeln wird möglich, wenn gut beratene Bauherren sich nicht allein auf die gesetzliche Verpflichtung reduzieren müssen, sondern Ziele anstreben können, von denen sie selbst überzeugt sind und deren Sinnhaftigkeit sie persönlich fördern wollen.

Die Politik ist zudem gefordert, diese Unternehmungen mit den notwendigen Rahmenbedingungen zu unterstützen, und wir alle Kreativität wie Pioniergeist nicht auf einen Binärcode von richtig und falsch reduzieren.

Die Chance ist da, grundlegend andere Schwerpunkte zu setzen, denn durch Corona, Krieg und andere (globale) Krisen haben viele Menschen und Institutionen erkannt, dass die eingefahrenen Systeme infrage gestellt werden können, dürfen und müssen. Diese Bereitschaft zur Transformation fordert uns heraus, disruptiv zu denken und zu handeln. Der Amerikaner Alan Kay soll einmal gesagt haben: „Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.“

Lassen Sie uns alle gemeinsam die Zukunft unserer Kinder gestalten – und zwar in der Verantwortlichkeit, die unserem Berufsstand zukommt! Nutzen wir diesen Impuls! Augen auf – der Traum beginnt.

(Der Beitrag ist in gedruckter Form in der Zeitschrift (Heft 11, 2022 / Verlag Ernst & Sohn) erschienen.)