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Der Weg des Multidisziplinärs - Werner Sobek zum Siebzigsten

Verfasst von: Bernhard Hauke
Veröffentlicht am: 16. Mai 2023
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Der Architekt und Bauingenieur Werner Sobek. Foto: René Müller

Werner Sobek ist vielen als Architekt bekannt. Als solcher und einziger ist er in der Cicero-Liste der 500 wichtigsten Intellektuellen Deutschlands aufgeführt. Sein von ihm entworfenes Stuttgarter Wohnhaus R128 ist neben O. M. Ungers das einzige aus Deutschland in Dominic Bradburys „Wohnhäuser – 103 Ikonen der Architekturgeschichte“ und Startpunkt für eine bemerkenswerte Reihe weiterer Experimentalbauten.

Er wurde mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet und ist omnipräsenter Redner und Vordenker in Sachen nachhaltig Bauen. Dabei gerät der Ingenieur, der er primär ist, ein bisschen in den Hintergrund. Nun ist Werner Sobek 70 geworden. Zeit für einen Rückblick auf den bemerkenswerten Lebensweg des erklärten Multidisziplinärs.

Von der stillen Alb in die Welt

Geboren am 16. Mai 1953 ist Werner Sobek als ältester von drei Brüdern am Rande der Schwäbischen Alb im beschaulichen Aalen aufgewachsen. Dort gab es mit Garten, Feldern und Wäldern eine prägende, fast ländliche Stille und Schönheit, die höchste Konzentration ermöglichte.

Im humanistischen Schubart-Gymnasium wurden Latein und Kunst großgeschrieben – insbesondere die Malerei hatte es dem Schüler angetan. Folgerichtig war der erste Studienwunsch Bühnenbild und Architektur. Am Ende fiel die Entscheidung praktischer orientiert auf Bauingenieurwesen in Stuttgart. Die Analyse des Gegebenen, unabhängig davon, ob dieses Sinn macht – wie er es selbst formulierte –, war ihm bald nicht mehr genug. So besuchte Werner Sobek ebenso Architekturvorlesungen, beschäftigte sich mit Textiltechnik, Mode oder Fahrzeugbau und stellte fest, dass die verschiedenen Disziplinen oft ganz unterschiedlich denken und sprechen.

Die Analyse des Gegebenen war ihm bald nicht mehr genug

Doch genau diese Zwischenwelten interessierten den Neugierigen und versprachen ihm offenbar den größten Erkenntnisgewinn. Durch die seltenen Leichtbau-Vorträge von Frei Otto inspiriert, erkämpfte sich Werner Sobek eine studentische Mitarbeit bei diesem, wo er die Grundlagen des Leichtbaus erwarb, und arbeitete parallel auch am Institut für Straßenbau. Hier, beim Geodäten Klaus Linkwitz, lernte er über die Geländevermessung die Beschreibung komplexer Geometrien und beim Baustoffkundler Karl Krenkler mit der Technologie bituminöser Beläge die Grundlagen nichtlinearer, viskoser Baustoffe. Später folgte unter der Anleitung von Jürgen Joedicke eine vertiefte Beschäftigung mit organischer Architektur.

Die Diplomarbeit verfasste er über Membrankonstruktionen – de facto die Zuspitzung des Leichtbaus als textiles Bauen – bei Jörg Schlaich, um direkt im Anschluss als Assistent bei ihm zu beginnen. Fachliche Heimat war nun die Arbeitsgruppe Leichte Flächentragwerke als Bestandteil des SFB 64 Weitgespannte Flächentragwerke mit Linkwitz, Otto und Schlaich sowie John Argyris; die Arbeitsschwerpunkte lagen bei textilen Konstruktionen und ihren Übergängen zu Seilen, Folien oder Schalen. In spätabendlichen gemeinsamen Sitzungen zum Sortieren der Diasammlung gab Jörg Schlaich nicht nur seine Denkweise weiter, sondern auch die seines Vorgängers Fritz Leonhardt. Schließlich stellte Werner Sobek jahrelang die Dias für die Vorträge von Jörg Schlaich zusammen.

Bereits zwei Jahre später wurde Werner Sobek der von Skidmore Owings & Merrill gestiftete erste Fazlur-Khan-Award in New York verliehen. Das Preisgeld nutzte er zuerst für eine Reise in den damals fast unzugänglichen Nordjemen. Anders als die Schwaben, die eher im Tal wohnen, leben dort die Menschen auf dem Berg. Damit war ein Entschluss gefasst: Oben wohnen ermöglicht weite Blicke, beflügelt Geist und Seele.

Nach wenigen Monaten in Stuttgart ging es mit dem verbleibenden Preisgeld zu SOM nach Chicago. Brigitte Peterhans, die ältere Schwester von Jörg Schlaich, half beim Zurechtfinden in Büro und Stadt und stellte den Kontakt zu Myron Goldsmith her. Dieser hatte bei Mies van der Rohe in Chicago und Piere Luigi Nervi in Rom studiert und lehrte nach dem Ausscheiden bei SOM am Illinois Institute of Technology. So gab es erste Kontakte zum IIT. Bei SOM traf er auch den gleichaltrigen Bill Baker, der später SOM-Chefingenieur und Konstrukteur u. a. des Burj Khalifa wurde, und viele weitere, heute bekannte Ingenieure, sodass Chicago fast schon eine zweite Heimat für ihn wurde.

Zurück in Stuttgart wurde nun die Dissertation über auf pneumatisch gestützten Schalungen hergestellte Betonschalen fertiggestellt. Als Mitberichter erklärte sich Gallus Rehm rasch bereit, kündigte aber zugleich an, dass der entsprechende Bericht mindestens zwölf Monate in Anspruch nehmen würde. Die Zeit wurde als experimentierender Wissenschaftler in Stuttgart und erneut mit einer großen Reise, diesmal ins Karakorum-Gebirge in Pakistan, genutzt. Die Kombination von atemberaubender Naturschönheit und gleichzeitig gnadenlosen Naturgewalten faszinierte Werner Sobek und führte ihm die eigene Unbedeutendheit vor Augen.

Der Leichtbauer

Mit der Arena von Nîmes fing es an: Die Architekten Finn Geipel und Nicolas Michelin hatten Jörg Schlaich um Unterstützung für eine pneumatische Überdachung gebeten und der gerade Promovierte stieg mit dieser Aufgabe bei schlaich bergermann partner ein. Das elliptische Luftkissendach 60 m × 90 m mit einer Nettofläche von 4000 m 2 mit Seilnetzunterstützung sollte rasch auf- und wieder abbaubar sein. Die beispiellose Konstruktion musste in kürzester Zeit fertiggestellt werden – es gelang. Nächstes Projekt war die Arena in Zaragoza mit einer permanenten Kreisring-Überdachung sowie einem zentralen Teil mit 36 m Durchmesser, der innerhalb von 5 min geöffnet oder geschlossen werden kann. Für diese Wandelbarkeit wurde die Motorik und steuerungstechnische Überwachung von Achterbahnen abgeschaut und auch die berührungslose Sensorik übertragen.

Dann erfolgte 1991 der Ruf auf den Lehrstuhl für Tragwerksplanung in Hannover als Nachfolger von Bernd Tokarz. So schied Werner Sobek bei sbp aus, zog nach Hannover und gründete sein eigenes Büro. Doch bevor dafür Räume in Hannover angemietet werden konnten, begannen bereits Gespräche über die Nachfolge von Frei Otto in Stuttgart. So blieb das Büro in Stuttgart, und die Zeit in Hannover war ein bisschen eine auf Abruf. Wichtigstes Projekt des jungen Büros war die Ecole nationale des arts décoratifs in Limoges. Durch eine Exkursion nach Chicago 1993 entwickelte sich eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem deutschstämmigen Architekten Helmut Jahn von Murphy/Jahn, welche die klassische Rollenverteilung zwischen Architekt und Ingenieur aufhob.

Der Ruf ans Institut für leichte Flächentragwerke in Stuttgart in Nachfolge von Frei Otto erfolgte schließlich 1994. In diese Jahre fiel auch die Beteiligung am Stahlbauatlas sowie wenig später dem Glasbauatlas, die eine frühe Zusammenfassung der Entwurfs- und Konstruktionsauffassung von Werner Sobek darstellen. Die bewegliche Überdachung des Centercourt am Rothenbaum in Hamburg oder das Sony-Center in Berlin mit Murphy/Jahn sind Projekte dieser Zeit.

R128 ist die als Lebensraum fassbar gewordene Summe der Visionen von Werner Sobek zu diesem Zeitpunkt

Unbedingt eingegangen werden muss auf R128. Mit seinem Stuttgarter Wohnhaus, das 2000 fertig wurde, begann Werner Sobek ein Einfamilienhaus pro Jahr zu planen. Das Wohnen in einer Seifenblase in Weiterentwicklung des Miesschen Farnsworth House wird mit einer vollständigen Dreifachverglasung erreicht und greift die Erfahrung der Jemen-Reise mit dem weiten Blick auf. Das sichtbare Stahltragwerk ist ebenso modular, rückbaubar und rezyklierbar, der Betrieb kommt ohne Heizenergie aus und ist emissionsfrei. R128 ist die als Lebensraum fassbar gewordene Summe der Visionen von Werner Sobek zu diesem Zeitpunkt.

Der traditionsreiche Stuttgarter Lehrstuhl für Massivbau, wo schon Emil Mörsch und Fritz Leonhardt gewirkt hatten und den Jörg Schlaich gegen Widerstände in Konstruktion und Entwurf umbenannt hatte, wurde 2001 als dessen Nachfolger ebenso auf Werner Sobek übertragen. In Zusammenfassung beider Lehrstühle und in bewusster Umkehr der Reihenfolge heißt es nun Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren – ILEK. Wichtiger Antrieb war hierbei, zusätzlich zur Fortführung der Leichtbautradition des IL von Frei Otto, der bereits von Jörg Schlaich angestoßene Wunsch, in der Ausbildung im Konstruktiven Ingenieurbau neben der klassischen Analyse vorgegebener Strukturen auch Konzeption und Entwurf von optimalen Tragkonstruktionen als zweiten, ebenso wichtigen Teil der Ingenieursarbeit zu fördern.

Weiterer wesentlicher Aspekt des ILEK ist die Interdisziplinarität von Team und Themen. Die Forschungsarbeiten sind entsprechend weit gefächert und reichen von tragenden Glasstrukturen über textile Gebäudehüllen bis hin zum Gradientenbeton, wobei meist weniger die konkrete Bauaufgabe als vielmehr die Zukunft des Bauens als Ziel erscheint. Aus der breiten Interdisziplinarität ergeben sich immer wieder Da-hätte-doch-schon-lange-jemand-draufkommen-müssen-Momente, wie z. B. adaptive Strukturen für einen Ultraleichtbau jenseits von Formfindung oder mathematischer Optimierung.

Interessante Projekte dieser Zeit waren bspw. die Hauptverwaltung der Deutschen Post in Bonn oder das Hochhausensemble am Münchner Tor, jeweils mit Murphy/Jahn aus Chicago, oder das Lufthansa Aviation Center Frankfurt mit Christoph Ingenhoven. Das Mercedes-Benz-Museum Stuttgart mit Ben van Berkel war insbesondere in Hinsicht auf die räumliche Form des Betontragwerks extrem komplex. Aufsehen erregte auch der große Baldachin mit Bühne und Altar für den Papstbesuch 2006 in Deutschland. Ab 2008 gab es dann mit der Mies-van-der-Rohe-Professur eine Rückkehr ans IIT in Chicago und gleichzeitig eine Kooperation mit dem ILEK in Stuttgart. Die Integration schaltbarer, energieeinsparender oder energiespeichernder Funktionen in die Gebäudehüllen kam als Forschungsthema dazu.

Nachhaltig Bauen für alle

Themen wie Emissionsfreiheit, Rezyklierbarkeit oder auch angemessener Wohnraum für alle Menschen auf unserem Planeten rückten zunehmend in den Mittelpunkt der Arbeit von Werner Sobek. Dies lässt sich mit der TripleZero-Idee mit null Energieverbrauch, null Emissionen (nicht nur CO 2) und null Müllaufkommen als Fortschreibung der R128-Vision beschreiben. Notwendig dafür sind neue Planungsmethoden und Werkzeuge sowie eine – jetzt sollte niemand mehr überrascht sein – maximal interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Architekten, Tragwerksplanern, Fassadenplanern oder Haustechnikern auf der einen Seite, aber auch mit den ausführenden Gewerken und Firmen.

So ist fast zwangsläufig, dass Werner Sobek auch zu den Initiatoren der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen gehört und die DGNB in den wichtigen Anfangsjahren als deren Präsident führte. Das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit mit Ökologie, Ökonomie und Sozialem sowie die Ökobilanzierung über den gesamten Lebenszyklus als prägende Aspekte fallen in diese Zeit und greifen auch das Modell der Kreislaufwirtschaft auf. Die Integration aller Aspekte der Nachhaltigkeit wird zu einer Technologisierung des Bauens führen, so Werner Sobek 2009 und fordert gleichzeitig eine zugehörige Ästhetisierung.

Die Integration aller Aspekte der Nachhaltigkeit wird zu einer Technologisierung des Bauens führen

Was das konkret bedeutet, zeigt z. B. das mit dem ILEK 2011 für das Bundesbauministerium entwickelte, vollständig rezyklierbare Effizienzhaus Plus mit Elektromobilität F87. Noch einen Schritt weiter geht 2014 Werner Sobeks vielleicht wichtigstes Experimentalgebäude: das B10 in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung erzeugt dank eines ausgeklügelten Energiekonzepts und einer selbstlernenden Gebäudesteuerung das Doppelte seines Energiebedarfs aus nachhaltigen Quellen, stellt den Überschuss im vernetzten Quartier und für Mobilität zur Verfügung und gilt damit als erstes Aktivhaus überhaupt.

Diese kleinen Versuchsbauten sind als Module zukünftigen Wohnens zu verstehen, welches Werner Sobek in verdichteten und mehrgeschossigen Strukturen sieht. Die Experimentaleinheit Urban Mining & Recycling (UMAR) ist Teil des Forschungsgebäudes NEST der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf. Der Entwurf von Werner Sobek mit Dirk E. Hebel und Felix Heisel zeigt auf, wie Urban Mining und eine ansprechende Architektur kombiniert werden können.

Auch die Entwicklung der heutigen Werner Sobek AG vom spezialisierten Tragwerksplaner des Leichtbaus über Fassadenplanung, Energieeinsparung und recyclinggerechtes Konstruieren bis zum kompletten nachhaltigen Bauen spiegelt den ganzheitlichen Weg wider. Der TK Elevator Testturm in Rottweil, zusammen mit Helmut Jahn, wurde 2018 mit dem Balthasar-Neumann-Preis und dem Deutschen Ingenieurbaupreis für die herausragende interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Integration der Nachhaltigkeitsaspekte ausgezeichnet. Gleichzeitig sind spektakuläre Projekte wie der Tiefbahnhof Stuttgart 21 mit Christoph Ingenhoven auf Ästhetik und technischen Fortschritt ausgerichtet.

Auch wenn Werner Sobek mit dem Gradientenbeton und dem Sonderforschungsbereich Adaptive Hüllen und Strukturen weiterhin als innovativer Bauingenieur tätig ist, wird er zunehmend als Vordenker und Mahner für nachhaltig Bauen in Europa und der Welt wahrgenommen, als Berater im Auftrag des Bundesbauministeriums, als Mitglied des Stiftungsrats der Bundesstiftung Baukultur, als öffentliche Person. Mit der Weitergabe der Leitung des ILEK an seinen Schüler Lucio Blandini werden seine Ideen von einer neuen Generation Forscher mit z. B. der Digitalisierung fortentwickelt.

Werner Sobek wird zunehmend als Vordenker und Mahner für nachhaltig Bauen wahrgenommen

Im Büro treten nun stärker Roland Bechmann oder Stefanie Weidner in die praktisch-visionären Fußstapfen, während Werner Sobek noch mehr publizistisch auftritt, nahezu omnipräsent ist und mit „Ausgehen muss man von dem, was ist“ den viel beachteten ersten Band der Triologie „non nobis – über das Bauen in der Zukunft“ veröffentlicht.

Das gleichberechtigte Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit sieht Werner Sobek zunehmend von der Priorität der Ökologie abgelöst, weil die Klimafolgen letztlich auch die Ökonomie und den sozialen Frieden gefährden. Die Perspektive bleibt dabei global und auf alle Menschen bezogen, weil es keine deutsche oder europäische Insellösung gibt, wohl aber eine Vorbild- und Schrittmacheraufgabe, zumal für Sustainable Archineering made in Germany. Niemand verkörpert das besser als der konsequente Multidisziplinär und Vordenker für nachhaltig Bauen, Werner Sobek. Chapeau!