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Erdbebenbemessung nach Eurocode 8: Neuer nationaler Anhang DIN EN 1998-1/NA:2023-11

Verfasst von: Dipl.-Ing. Marius Pinkawa
Veröffentlicht am: 26. Apr. 2024
  • Alte Erdbebennorm DIN 4149 und aktuelle Norm DIN EN 1998 konkurrieren um Anwendung in der Praxis
  • Neue Erdbebengefährdungskarte: NA:2021-07
  • Neue Karte der geologischen Untergrundklassen: NA:2023-11
  • Ausblick: Einführung DIN EN 1998

DIN 4149 oder DIN EN 1998 – Welche Erdbebennorm ist anzuwenden?

Bauwerke in deutschen Erdbebengebieten müssen für den Erdbebenlastfall ausgelegt werden. Die Anforderungen für eine erdbebengerechte Tragwerksauslegung und die dabei anzusetzenden Erdbebenersatzlasten finden sich in der nationalen Erdbebennorm. Tragwerksplaner und Statiker in Deutschland sehen sich hierbei schon seit längerem mit einer unangenehmen Frage konfrontiert: Welche Erdbebennorm ist anzuwenden?

Erdbebenkarte
Abb. 1: Erdbebengefährdungskarte Deutschland (Quelle: DIN EN 1998-1/NA:2023-11)

Hintergrund ist die Tatsache, dass sich Deutschland in Bezug auf die Erdbebennormung in einer zähen Übergangsphase befindet. Und das schon seit Jahren. Um den Platz der anzuwendenden Erdbebennorm konkurrieren dabei zwei Normen:

Auf der einen Seite die veraltete und zurückgezogene, aber bauaufsichtlich noch geforderte DIN 4149 ("Bauten in deutschen Erdbebengebieten"). Und auf der anderen Seite die aktuelle, als Stand der Technik anzusehende DIN EN 1998 (respektive Eurocode 8, "Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben", wird im Folgenden synonym verwendet; siehe Hinweis).

Dieser missliche Zustand zweier konkurrierender Erdbebennormen wird erst aufgelöst sein, wenn die DIN EN 1998 bauaufsichtlich eingeführt ist. Dann entfällt die bauordnungsrechtliche Verpflichtung, die ohnehin veraltete Erdbebennorm DIN 4149 weiterhin berücksichtigen zu müssen.

(Hinweis: Mit DIN EN 1998 bzw. Eurocode 8 ist hier verkürzt dargestellt die DIN EN 1998 Teil 1 (Grundlagen, Erdbebeneinwirkung, Hochbauten) und Teil 5 (Geotechnik, Gründungen, Stützbauwerke) inklusive Änderungen und nationaler Anhänge gemeint. Die insgesamt fünf Dokumente (DIN EN 1998-1:2010-12, DIN EN 1998-1/A1:2013-05, DIN EN 1998-1/NA:2023-11, DIN EN 1998-5:2010-12, DIN EN 1998-5/NA:2023-11) sollen die DIN 4149:2005-04 zukünftig bauaufsichtlich ablösen.)

Konkurrenzsituation zwischen DIN 4149 und DIN EN 1998

Bis dahin bleibt die Frage nach der in der Erdbebenbemessungspraxis anzuwendenden Norm nicht so einfach zu beantworten, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wie bereits erwähnt, muss die DIN 4149 aus bauordnungsrechtlicher Sicht beachtet werden. Sie ist somit von der Bauaufsicht gesetzt. Aber ist die Einhaltung bauaufsichtlicher Mindestanforderungen bereits ausreichend?

Schließlich muss im zivilen Baurecht (BGB-Vertrag: §633 BGB, VOB-Vertrag: §13 Nr. 1 VOB/B) die Werkleistung – bei fehlender Vereinbarung auch stillschweigend – mindestens den "allgemein anerkannten Regeln der Technik" entsprechen. Ob die DIN 4149 noch als anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann oder diese Rolle der neueren DIN EN 1998 zukommt, lässt sich aktuell nicht zweifelsfrei klären.

Verschärfend kommt hinzu, dass gemäß der Rechtsprechung die anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Bauabnahme einzuhalten sind (vgl. auch § 13 Nr. 1 VOB/B). Je weiter die Bauabnahme also in der Zukunft liegt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die DIN EN 1998 als allgemein anerkannte Regel der Technik angesehen wird.

Um rechtliche Risiken zu minimieren, sollte in aktuellen Projekten mit Erdbebenanforderungen nicht ausschließlich die DIN 4149 (Mindestanforderung aus öffentlichem Baurecht) sondern auch zusätzlich die DIN EN 1998 (als vermutlich bereits allgemein anerkannte Regel der Technik) berücksichtigt werden.

Denn obwohl die DIN EN 1998 (Eurocode 8) in Deutschland bauaufsichtlich noch nicht eingeführt wurde, ist sie in der deutschen Erdbebenbemessungspraxis nicht mehr wegzudenken. Sie wird vielmehr aus oben beschriebenen Gründen heute schon vielfach angewendet. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk dem sogenannten nationalen Anhang (NA), in welchem nationale Eigenarten wie die Erdbebengefährdung geregelt sind.

Im Folgenden wird auf die Entwicklung und die Unterschiede der inzwischen mehreren Fassungen des nationalen Anhangs zur DIN EN 1998-1, von der Erstfassung NA:2011-01 über die Fassung NA:2021-07 bis zur aktuellen Fassung NA:2023-11, eingegangen.

Die Erstfassung des deutschen Anhangs zum Eurocode 8 – DIN EN 1998-1/NA:2011-01

Der nationale Anhang von 2011 entspricht im Wesentlichen der DIN 4149:2005-04, da die DIN 4149 von 2005 im Hinblick auf die Einführung des Eurocode 8 gegenüber ihrer letzten Fassung von 1981 erneuert wurde. Im Zuge der Überarbeitung entstand mit der DIN EN 1998-1/NA:2011-01 der erste nationale Anhang zur DIN EN 1998-1.

Schon damals wurde die ältere DIN 4149:2005-04 als Wegbereiter für die Einführung der DIN EN 1998 und damit als "Norm auf Zeit" bezeichnet. Seitdem hält sie sich bis heute hartnäckig.

Neue Karte der deutschen Erdbebengefährdung – DIN EN 1998-1/NA:2021-07

Unter anderem neue Erkenntnisse aus europäischen Forschungsprojekten gaben Anlass, die deutsche Erdbebengefährdung neu einzuschätzen. Ein solches Unterfangen dauert Jahre, sodass die Einführung der DIN EN 1998 vorerst ausblieb. Im Sommer 2021 wurde dann die neue deutsche Erdbebengefährdungskarte in der DIN EN 1998-1/NA:2021-07 veröffentlicht (siehe Abb. 1).

Die in der Norm enthaltene Erdbebengefährdungseinschätzung geht mit teils beträchtlichen Erhöhungen gegenüber der Karte aus der DIN 4149 einher. Während der ursprüngliche Maximalwert bei 0,8 m/s² lag, ist nun ein Wert von bis zu 1,56 m/s² möglich – nahezu eine Verdoppelung der anzusetzenden Beschleunigung.

Insbesondere dem Mauerwerksbau tut eine solche Erhöhung weh, sodass für den nationalen Anhang von 2021 verstärkte Forschungsanstrengungen in Bezug auf Mauerwerk unternommen wurden. Die konstruktive Nachweismethode anhand von Tabellen einer mindestens einzuhaltenden Wandschubfläche wurde erweitert, sodass ein Erdbebennachweis von Mauerwerk trotz der höheren Beschleunigungen mit geringem Aufwand weiterhin gelingen kann.

Neue Karte der geologischen Untergrundklassen – DIN EN 1998-1/NA:2023-11

Da sich mit der neuen Erdbebengefährdungskarte auch die Grenzen der Erdbebengebiete verändert haben, war eine Ergänzung und Aktualisierung der Karte der geologischen Untergrundklassen sinnvoll. Daher wurden die geologischen Untergrundklassen nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik in einer höheren räumlichen Auflösung neu evaluiert. Die neue Karte der geologischen Untergrundklassen wurde mit dem nationalen Anhang DIN EN 1998-1/NA:2023-11 normativ veröffentlicht.

Gegenüber der alten Karte ist die Ausweisung der Untergrundklassen deutlich feiner und nicht mehr an Gemarkungsgrenzen gebunden (siehe Abb. 2). Somit können sich vielerorts Unterschiede in der geologischen Untergrundklasse gegenüber der alten Karte der DIN 4149 ergeben.

Untergrundklassen
Abb. 2: Karte der geologischen Untergrundklassen Deutschland (Quelle: DIN EN 1998-1/NA:2023-11)

Wie bei der Erdbebengefährdungskarte wurde die alte analoge Karte durch einen digitalen Datensatz abgelöst, welcher den geografischen Koordinaten in einem Raster von 1 km die geologische Untergrundklasse zuweist. Während die geologischen Untergrundklassen R (Fels), S (flache Sedimentbecken) und T (tiefe Sedimentbecken / Übergangsbereich) gleichgeblieben sind, haben sich im Detail Unterschiede ihrer Definition ergeben.

Digitale Anhänge ermöglichen ortsgenaue Interpolation

Der nationale Anhang von 2021 hat mit der neuen Erdbebengefährdungskarte einen zukunftsgerichteten, modernen Weg eingeschlagen. Die Erdbebengefährdung muss nun nicht mehr anhand von Karten – sei es in Papierform oder als PDF – oder Tabellen mit Hilfe der Gemarkungsgrenzen bestimmt werden, sondern kann aus einem Netz von Datenpunkten ortsgenau interpoliert werden.

Physikalisch nicht zu rechtfertigende Sprünge an Zonengrenzen gehören damit der Vergangenheit an. Gegenüber der bisherigen Erdbebenzone 0 ist nun auch eine differenziertere Betrachtung möglich: Während für ein Einfamilienhaus eine Erdbebenauslegung entfallen könnte, kann sie für ein Krankenhaus erforderlich sein. Mit dem nationalen Anhang 2023 können jetzt auch die geologischen Untergrundklassen aus einem digitalen Datensatz ortsgenau und komfortabel ermittelt werden.

Ausblick: Bauaufsichtliche Einführung der DIN EN 1998

Die Festlegung einer erhöhten Erdbebengefährdung in Deutschland ging mit einigen Widerständen verschiedener Interessengruppen einher, die mit dem Argument von Kostensteigerungen Stimmung gegen die Einführung der neuen Erdbebengefährdungskarte machten. Der nationale Normenausschuss hat auf diese Kritik mit einiger Zeitverzögerung, dafür aber mit deutlichen Worten öffentlich reagiert. Dabei verwies man auf die unsachgemäße und fachlich teils falsche Argumentation (siehe [1]).

Dennoch führte die offensichtlich politisch gefärbte Kritik zum erwünschten Ergebnis, nämlich zu Diskussionen in der Fachöffentlichkeit und in den Bauaufsichtsbehörden. Die Folge ist eine bis heute ausgebliebene bauaufsichtliche Einführung des Eurocode 8 als technische Baubestimmung.

Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Mit der Neufassung von 2023 fehlt dem nationalen Anhang nun wirklich nichts mehr, um zeitnah bauaufsichtlich eingeführt zu werden. Es bleibt spannend, wann der unsägliche Übergangszustand beendet wird und auch bauordnungsrechtlich die Einhaltung einer modernen Erdbebennorm eingefordert wird. Die veraltete Erdbebennorm DIN 4149 hätte ihren Ruhestand längst verdient.

[1] Stellungnahme des Normenausschuss Bauwesen (NABau) NA 005-51-06 AA Arbeitsausschuss "Erdbeben, Sonderfragen (Spiegelausschuss zu CEN/TC 250/SC 8)" zum Positionspapier der DGfM vom 7. Juli 2021 zur bauaufsichtlichen Einführung der neuen Erdbebennormung für Deutschland (erschienen in Bauingenieur Jahrgang 97 (2022) Heft Nr. 12)


Dipl.-Ing. Marius Pinkawa

Pinkawa

Marius Pinkawa ist seit über zehn Jahren im Bereich des Erdbebeningenieurwesens tätig. Er betreibt das Internetportal , wo er zu aktuellen Entwicklungen der Erdbebenbemessung in Deutschland informiert.