Im Gespräch mit Michael Braungart (Cradle to Cradle): Weniger schlecht ist noch lange nicht gut - Teil 3
Michael Braungart hat zusammen mit dem Architekten William McDonough Cradle to Cradle entwickelt. Im Kern geht es bei dem Konzept um das, was gut für uns und unsere Umwelt ist, also ökoeffektiv statt nur -effizient.
Bernhard Hauke (nbau - nachhaltig bauen) hat mit Michael Braungart über Cradle to Cradle und das Bauen gesprochen.
Aktuell befinden wir uns in einer Phase der Transformation, insbesondere beim Bauen. Welche Entwicklungen sehen oder wünschen Sie sich?
Michael Braungart: Die Zukunft des Bauens fängt erst an. Wenn man begreift, dass man auf einem Hektar Fassade durch Algenproduktion so viel Eiweiß anbauen kann wie durch Maisanbau auf 60 Hektar Ackerland, dann kann man sehen, dass die Gestaltungsmöglichkeiten der Architektur im Hinblick auf ihre Nützlichkeit noch lange nicht ausgeschöpft sind. Wir können Gebäude errichten, die Feinstäbe an sich binden. Warum soll ich meine Lunge einsetzen, um die Luft zu reinigen?
Deutschland hat 560 Milliarden Euro ausgegeben für die Corona-Abwehr. Wir haben durch Corona sicher ein paar Wochen Lebenserwartung verloren, aber wir verlieren durch Feinstaub 4,5 Jahre Lebenserwartung. Es gibt keinen äußeren Faktor der uns so sehr wie Feinstaub das Leben begrenzt. Das Bauen könnte ganz anders gestaltet werden.
Wir können Gebäude errichten, die Feinstäbe an sich binden. Es gibt keinen äußeren Faktor der uns so sehr wie Feinstaub das Leben begrenzt.
Schon heute gibt es Lösungen in diese Richtung. Wir haben Teppichböden entwickelt, die Feinstäube an sich binden. Wir können Gebäude machen, in denen die Luft besser ist als draußen. Wir haben das mit dem Rathaus Venlo gezeigt, wo der Krankenstand 20 Prozent niedriger ist. Der Gebäudewert ist praktisch fast irrelevant im Verhältnis zu den gesundheitlichen Auswirkungen. Wenn drei Mitarbeitende krank sind, dann ist die Miete fast irrelevant im Verhältnis dazu.
Nochmal, die Zukunft des Bauens beginnt gerade erst. Aber nicht in dem wir möglichst wenig schädlich sind, denn dann kommen wir nur darauf, wir müssten den Flächengebrauch reduzieren. Nein, wir müssen zu einem Flächengebrauch kommen, die Flächen müssen genutzt und durch dreidimensionale Aufbauten zusätzliche Lebensräume geschaffen werden.
Wenn wir an klimapositives Bauen denken, sehen Sie massentaugliche Verfahren und Materialien, die wir beim Bauen verwenden können?
MB: Wir brauchen natürlich Speichermaterialien, denn eigentlich ist es ja in Deutschland lange warm genug. Wir brauchen also eine Speicherung der Sommerwärme für den Winter und auch der Winterkälte für den Sommer. Norman Foster hat dies beim Reichstagsgebäude in Berlin umgesetzt.
Mein Vater hat noch im Winter Eisblöcke aus Teichen geschnitten, um im Sommer damit das Bier zu kühlen. Wir haben die Phantasie in diesem Bereich völlig verloren. Auf der Welt müssen viel mehr Gebäude gekühlt werden als erwärmt. Wir haben immer das nördliche Denken. Im Prinzip ist die jetzige Nachhaltigkeitsdiskussion skandinavisch. Das heißt die Bedürfnisse der jetzigen Generationen erfüllen ohne den zukünftigen zu schaden.
Erzählen sie abends ihren Kindern, dass sie ihnen gerade nicht schaden wollen? Was für ein trauriges Menschenbild. Wenn es dunkel und kalt ist, dann kommt man auf solche Idee: sparen, verzichten, vermeiden, reduzieren. Aber die Natur lebt von Großzügigkeit, von intelligenter Verschwendung.
Ein Kirschbaum im Frühling, der vermeidet nicht, der spart nicht, der reduziert nicht, der ist gut für die anderen Lebewesen. Warum wollen wir dümmer als Kirschbäume sein? Ein Kirschbaum ist Lebensraum für 200 andere Arten. Wie wäre es, Gebäude zu machen, bei denen die anderen Lebewesen sich freuen, dass es uns gibt?
Das setzt voraus, dass wir den Eingeborenenstatus wirklich selber beanspruchen. Das würde aber auch bedeuten, dass wir unbedingt die Babyboomer an Bord behalten müssen. Kein Land der Welt kann Leute für mehr als zehn Jahre Nichtstun bezahlen. Das heißt wenn wir den gleichen Prozentsatz an Rentnern hätten, wie damals, als wir die Rente eingeführt haben, dann wäre unser Renteneintrittsalter bei 88,2 Jahren. Die Rente war nur für die, die wirklich nicht mehr konnten, das war die Ausnahme, die absolute Ausnahme.
Wir müssen lernen, dass wir so lange wie wir gesund sind auch tätig sind. Wenn wir krank sind brauchen wir viel mehr Hilfe, viel mehr Unterstützung als jetzt. Wir haben in den Pflegeheimen schon lange unsere Würde eingebüßt, aber wenn wir gesund sind, dann sind wir tätig. Das setzt voraus, dass wir vor allem auch andere Bau- und Wohnformen brauchen.
So wie man in Afrika sagt, es baucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, nicht zwei überforderte Teilzeiteltern, die das nie gelernt haben sozusagen. Kinder müssen Fluchtmöglichkeiten haben, sie müssen zu jemand anderem gehen können, wenn sie sich mit ihren Eltern nicht vertragen. Wir ziehen die Neurosen nur heran.
Kein Land der Welt kann Leute für mehr als zehn Jahre Nichtstun bezahlen. Wir müssen lernen, dass wir so lange wie wir gesund sind auch tätig sind. Das setzt voraus, dass wir vor allem auch andere Bau- und Wohnformen brauchen.
Über die Hälfte unserer jungen Frauen zwischen 17 und 35 leidet an Depressionen oder psychischen Auffälligkeiten, weil sie mit den ganzen Anforderungen nicht zurechtkommen, die da sind. Das heißt wir brauchen Gebäude und Quartiere, die wirklich den Menschen dienen und den anderen Lebewesen gleichermaßen. Wenn man mit etwas mehr Freude und Kreativität an die Sache herangehen würde, könnte man in vielen Fällen zu völlig anderen Lösungen kommen.
Nachhaltig Bauen wurde lange als Hightech definiert, mit Passiv- bzw. Niedrigenergiehäusern und ganz viel Lüftung. Jetzt gibt es einen neuen Lowtech-Trend. Einfach Bauen, ist das eine sinnvolle Lösung?
MB: Ich habe mich lange über die Passivhäuser lustig gemacht. In der Tat braucht es viel einfachere Systeme, die aber gleichzeitig Hightech sind. Die Firma EBM-Papst beispielsweise stellt Ventilatoren für Klimaanlagen her, die zehn Jahre lang keine Wartung brauchen. Das Unternehmen verkauft diese Ventilatoren und konkurriert dabei mit anderen, deren Nachbauten nach zwei Jahren kaputt sind. Besser wäre es, wenn man die Dienstleistung kauft und nicht das Gerät. Niemand braucht wirklich eine Solaranlage zu besitzen, wir brauchen den Strom daraus.
Wir hätten heute eine florierende Solarindustrie, wenn wir das Geschäftsmodell rechtzeitig geändert hätten. Die Firma Schüco hat Solaranlagen hergestellt, die nach 19 Jahren noch 93 Prozent des Wirkungsgrades hatten. Diese Anlagen konkurrieren mit chinesischen Produkten, die in den ersten fünf Jahren die Hälfte ihres Wirkungsgrades verloren haben, aber am Anfang 30 Prozent billiger sind. Auf 20 Jahre wäre die Schüco-Anlage 40 Prozent kostengünstiger hinsichtlich der Stromausbeute.
Gebäude müssten in ihrer Grundstruktur so sein wie der Kölner Dom. Wenn der irgendwann einmal zusammenbricht, entsteht immer noch ein Biotop daraus.
Das heißt für alle diese Dinge, die wir in unsere Gebäude einbauen, brauchen wir andere Geschäftsmodelle. Niemand braucht ein Fenster, ich brauche ein Durchgucken und Wärmedämmung für 30 Jahre. Niemand braucht eine Fassade. Ich brauche eine Optik und einen Schutz. Das heißt wir brauchen Geschäftsmodelle, wo wir einen gesunden Kern haben, der tatsächlich Ewigkeitswert haben kann und dann Ein- und Ausbauten, die Dienstleistungen sind. Man müsste also keine Beleuchtung kaufen sondern Lichtleistung.
Ich habe das 2001 einer Firma in Österreich vorgestellt, die haben mich vom Hof gejagt. Jetzt verdienen sie tatsächlich Geld damit, indem sie keine LEDs verkaufen sondern Lichtleistung. Die Stadt Rotterdam spart damit 40 Prozent Kosten ein. Niemand braucht eine LED, die 80.000 Stunden hält, ich brauch die Nutzung davon.
Gebäude müssten in ihrer Grundstruktur so sein wie der Kölner Dom zum Beispiel. Wenn die Bleifenster ausgebaut würden wäre das immer noch ein Lebensraum für alle möglichen Insekten oder Fledermäuse. Denen ist es dann auch egal, wenn alles irgendwann einmal zusammenbricht. Es entsteht immer noch ein Biotop daraus.
Seltene und giftige Dinge müssten so in Geschäftsmodellen integriert sein, dass sie der Menschheit wieder zur Verfügung stehen. Gebäude hätten so ganz andere Herausforderungen. In Gebäuden sollte also kein Kupfer mehr verwendet werden. Es ist einfach nicht genügend Kupfer vorhanden, um es in Häusern zu verbauen und gleichzeitig die E-Mobilität zu ermöglichen.
Die DGNB propagiert Lowtech, aber hier ist es wie Albert Einstein gesagt hat: Man soll die Dinge immer so einfach wie möglich erklären, aber nicht einfacher. Man muss zuerst Komplexität zulassen, um dann vereinfachen zu können.
Michael Braungart (geb. 1958)
- Studium Chemie und Verfahrenstechnik an der Universität Konstanz
- TU Darmstadt; 1985 Promotion Fachbereich Chemie LU Hannover
- 1985 - 1987 Leiter Chemie Greenpeace Deutschland
- 1987 Gründung Environmental Protection Encouragement Agency – EPEA Hamburg
- seit 1994 Professor für Stoffstrommanagement, später Ecodesign an der Leuphana Universität Lüneburg
- 2002 mit William McDonough Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things
- seit 2008 Professor für Cradle to Cradle an der Erasmus-Universität Rotterdam
- 2022 Deutscher Nachhaltigkeitspreis für das Lebenswerk