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Komplexe Großprojekte, veränderte Anforderungen: Die aktuelle Situation im Bauwesen aus Sicht eines großen Planungsbüros

Verfasst von: Dipl.-Ing. Ulrich Castrischer, SSF Ingenieure AG
Veröffentlicht am: 1. Juni 2023

In den letzten Jahren änderte sich der Charakter der Planungsaufträge im Bauwesen. Betrachtet man die Auftragsart heute im Vergleich zu der vor 20 Jahren, fällt auf, dass sich die Aufträge in Größe und Umfang der beauftragten Leistungen deutlich erweitert haben. Das gilt insbesondere im Bereich der Verkehrsinfrastruktur.

Veränderung der Aufgabenfelder

In der Vergangenheit wurden größere Projekte wie Autobahnabschnitte oder Bahnstrecken in Neubau / Ausbau oder Ertüchtigung auf Bauherrenseite durch ein mittelgroßes Team betreut und gesteuert.

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Das BIM-Modell des neuen Hauptbahnhofs Zürich.
Quelle: SSF Ingenieure AG

Die eigentlichen Planungsleistungen wurden auf mehrere Planungsbüros aufgeteilt, getrennt nach Fachrichtung, und so portioniert, dass mehrere mittelständische Planer einzeln gebunden werden konnten. Die Koordinierung der Planer sowie die Kontrolle und Abnahme der Planungsergebnisse wurden durch die Bauherrenseite geleistet.

Zurzeit erleben wir einen starken Trend zur Vergabe von Planungsaufträgen, die entweder viele unterschiedliche Fachrichtungen in einem Auftrag oder eine Vielzahl von Planungen eines Fachgewerks vereinen.

Es sind zunehmend Aufträge am Markt, die Planungsleistungen von Verkehrsanlagen, Ingenieurbau, technischer Streckenausrüstung mit z. B. Planungsleistungen zu Schall- und Erschütterungsschutz, Umweltplanung und Verkehrsuntersuchung in einem Vertrag bündeln. Teilweise werden auch Grundlagen wie Vermessung oder Baugrunduntersuchung und -beurteilung als Leistungsteile mit vergeben oder es werden Aufträge vergeben, die die Planung von bis zu 30 Bauwerken in einem Vertrag vorsehen.

Auch die fachliche Kontrolle der Planungen durch gesonderte Fachprüfer:innen wurde von einigen öffentlichen Bauherren schon vor längerer Zeit in das Lastenheft des Planers geschrieben. Auch Themen wie Baulogistik, Verkehrserfassung und -steuerung sowie Verwendungsplanung für überschüssige Materialien werden zunehmend Teil der geforderten Gesamtleistung.

Zu erkennen ist hier eine Entwicklung bei den öffentlichen Auftraggebern, die teilweise auch auf den Arbeitsmarktdruck zurückzuführen ist. Beim Auftraggeber sind die erfahrenen Teams für die Durchführung großer Bauvorhaben gegenüber den anstehenden Aufgaben nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden. Die Komplexität der Bauvorhaben, gerade auch im Bereich der Plangenehmigung und Finanzierung, hat zugenommen. Die neuen Methoden wie BIM oder Lean Management sind auf Bauherrenseite noch nicht komplett etabliert und bringen bisher nicht die erhoffte Arbeitserleichterung. Der Auftraggeber ist gezwungen, Eigenleistungen an extern gebundene Planer abzugeben, um seine Ziele zu erreichen.

Die oben beschriebene Entwicklung zu umfassenden Planungsaufträgen führt dazu, dass man als Planungsbüro zunehmend in der Rolle eines Generalplaners mit entsprechender Risikoübernahme auftreten muss, häufig in Arbeitsgemeinschaft mit anderen Fachplanern. Dabei übernehmen die Büros auch die klassischen Aufgaben des Bauherren in Koordinierung und Steuerung der einzelnen Fachplanungen. Damit nehmen Größe und Aufgabenumfang der Teams zu. Die Mitarbeiter:innen, gerade die Projektleiter:innen, müssen nicht nur über spezialisiertes Fachwissen, sondern auch übergreifendes Wissen aus verschiedenen Fachbereichen verfügen. Themen wie Projektsteuerung und Mitarbeiterführung sind ebenfalls gefragt.

Die SSF Ingenieure haben bereits vor Jahren mit verschiedenen Maßnahmen auf diese Entwicklung reagiert. So wurde der Bereich Projektmanagement ins Leben gerufen, der aus erfahrenen Projektmanager:innen besteht, die Erfahrung in der Steuerung von Großprojekten haben. Sie bringen ihr Wissen sowohl für den Bauherren als auch intern bei Großprojekten ein. Es erfolgt eine aktive Anwendung von Hilfsmitteln wie Termin- und Ressourcenplanung. Dabei werden moderne Managementmethoden wie Last Planner, Lean Management oder Scrum angewendet. Der Projektleitung steht außerdem ein Vertragsmanagement zur Seite, das Vertragsfragen direkt mit dem Auftraggeber diskutiert und somit die ausreichende Finanzierung der Projekte und der Projektressourcen auch bei Änderungen sicherstellt.

Den Mitarbeiter:innen steht frei, sich im Laufe ihres Berufslebens zu spezialisieren, also Fachleute in einem oder mehreren Fachgebieten mit profundem Wissen zu werden, oder sich zu generalisieren, also anteiliges Fachwissen aus unterschiedlichsten Fachbereichen zu erwerben, um als Generalist:in die Planungen der Fachgebiete in komplexen Projekten zu leiten, zusammenzuführen und zu koordinieren.

Bestandsaufnahme

Die SSF Ingenieure AG ist als großes Planungsbüro im Bauwesen bundesweit mit ca. 300 beratenden Ingenieur:innen in allen Leistungsphasen der HOAI seit über 50 Jahren am Markt tätig. Mit einer Spezialisierung überwiegend auf den Ingenieurbau im Verkehrswegebau und den Hochbau ist das Hauptaufgabenfeld der Konstruktive Ingenieurbau mit Projekten für Brücken-, Tunnel- und U-Bahnbau sowie Bahnhöfe. Im Hochbau sind die Themen aufwendige Tragwerke, weitgespannte Hallen, Schalentragwerke, Netzabspannungen etc. Auch das Bauen im Bestand ist Teil der Spezialisierung.

Das Unternehmen hat verschiedene Bauverfahren entwickelt, die heute als Standardbauweisen etabliert sind. Dazu gehören Fertigteilbauweisen im Brückenbau, wie z. B. die VFT- oder die VTR-Bauweise, Verfahren zu Längs- und Querverschüben von Brückenbauwerken im Ganzen oder in Teilen beim Bauen unter laufendem Verkehr sowie innovative Materialanwendung wie Zeltdachkonstruktionen oder externe Bewehrung.

All diese Innovationen sind getrieben vom Wunsch, Baumaterialien möglichst kostengünstig und ressourcenschonend und somit nachhaltig und effektiv einzusetzen sowie die Lebensdauer unserer Bauwerke zu erhöhen. Dabei kombinieren SSF Ingenieure die Entwicklungen einer eigenen Forschungsabteilung mit der Anwendung neuer Bauweisen in der Praxis.

Auftragslandschaft

Aus der Spezialisierung ergibt sich, dass ein großer Anteil am Umsatz mit Auftraggebern der öffentlichen Hand oder aus dem Sektorenbereich erwirtschaftet wird. Somit sind Projekte und wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens stark an die Auftragslage der öffentlichen Hand gebunden.

Die lange und sehr gute konjunkturelle Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland mit steigenden Steuereinnahmen und staatlichen Investitionen u. a. in Infrastruktur führte, verbunden mit hoher Qualität der Produkte in Planung und Überwachung, zu einem stetigen Wachstum des Unternehmens. Umsatz und Anzahl der Mitarbeiter:innen haben sich in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt. Das Wachstum wurde dabei organisch und ohne Zukauf von Mitbewerbern generiert.


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im Bauingenieurwesen


Aktuell besteht weiter eine sehr gute Auftragslage. Für die überwiegend öffentlichen Bauherren besteht nach wie vor das Erfordernis, in Infrastruktur zu investieren. Das Thema der maroden Brücken bleibt aktuell. Gleichzeitig erfordern Klimawandel und Verkehrswende den Ausbau der Infrastruktur der Bahn. Im Bereich großer Städte wird zunehmend in die Verkehrswende investiert, sprich der Ausbau der regionalen Schieneninfrastruktur zur Verbesserung des ÖPNV in Ballungsräumen schreitet mit großen und interessanten Projekten voran.

Hinzu kommen die Modalitäten der öffentlichen Vergabe, die den Bauherren zwingen, die Kompetenz der zu beauftragenden Unternehmen im Bieterverfahren mittels Referenzen vergleichbarer Unternehmen im Bieterverfahren mittels Referenzen vergleichbarer Leistungen zu prüfen und in der Vergabe zu werten. Dies führt dazu, dass nur wenige Planer aufgrund ihrer Referenzen die großen interessanten Projekte planen bzw. ausführen können. Wollen Bauingenieur:innen Großbrücken, Hauptbahnhöfe, U-Bahnen oder weitgespannte Tragwerke planen, müssen sie Teil dieser Planungsbüros sein.

Personalentwicklung

Den wachsenden Aufgaben im Bauwesen im Bereich Infrastruktur steht ein Mangel an Fachkräften am Markt gegenüber. Rückfragen an den großen technischen Universitäten wie der TU München, der TU Berlin oder der RWTH Aachen haben ergeben, dass kein signifikanter Rückgang der Studierendenzahlen in den technischen Studiengängen zu verzeichnen ist. Statistische Quellen bestätigen dies. An den genannten Universitäten wächst das Bauingenieurwesen im Gegensatz zu anderen Fachbereichen aber auch nicht.

Gleichzeitig zeigt sich aber, dass mit dem Ausscheiden der Babyboomer dem Arbeitsmarkt eine große Zahl an Erwerbspersonen verloren geht. Die Anzahl der nachwachsenden Erwerbstätigen kann die Ausscheidenden nicht ersetzen.

Die Personalentwicklung bei SSF Ingenieure zeigt, dass das Unternehmen weiter gute Mitarbeiter:innen an sich binden kann. Es gibt weiterhin stetig Bewerbungen interessanter Kandidat: innen. Aber auch hier spürt man den Arbeitsmarktdruck. Festzustellen ist:

  • Die Anzahl qualifizierter Bewerbungen auf offene Stellen hat abgenommen. Dies gilt v. a. für berufserfahrene Kräfte. Während noch starker Zulauf von Jungingenieur:innen mit teils sehr guten Abschlüssen herrscht, haben erfahrene Kräfte, die man binden möchte, i. d. R. im Moment die Auswahl zwischen mehreren interessanten Offerten.
  • Die Bauherrenschaft ist im Arbeitsmarkt sehr aktiv. Die Umstrukturierung verschiedener Bauherren hat zu einem Anstieg offener Stellen geführt. Während der Bauherr früher nahezu ausschließlich berufserfahrene Kolleg:innen eingestellt hat, bindet er nun zunehmend auch Berufsanfänger: innen sowie fachfremde Kolleg:innen.
  • Beratende Ingenieure leisten weiterhin zusammen mit der Bauindustrie die klassische Rolle des Ausbilders für Berufsanfänger: innen. Bedingt durch den o. g. Trend muss man diese Rolle zunehmend auch gegenüber Partnern auf der Auftraggeberseite übernehmen.
  • Aufgrund der guten Arbeitsmarktbedingungen ist ein erhöhter Wechselwille von Ingenieur:innen zu erkennen.
  • Die Bauindustrie spielt bei den Unternehmensabgängen weiter keine Rolle. Wer einmal die Faszination des Planens und Gestaltens kennengelernt hat, will nicht mehr mit der Baustelle durch die Lande ziehen.
  • Umgekehrt liefert die Bauindustrie ausgebildete Kolleg:innen, die als Bauüberwachung weiter auf der Baustelle bleiben, aber dem Stress des Mittelmanagements als Bauleitung entfliehen wollen.

Was macht Planungsbüros für Arbeitnehmer:innen attraktiv?

  • In erster Linie sind es interessante Projekte, wie z. B. die Filstalbrücke, die zweite Stammstrecke München, das Volkstheater München oder der Neubau des AD Funkturms in Berlin.
  • Grundvoraussetzung für einen langjährigen Verbleib im Unternehmen sind aber die Arbeitsbedingungen, geprägt v. a. durch die Unternehmenskultur. Eine offene, kommunikative und unterstützende Firmenkultur, die auf gegenseitigem Vertrauen und einer positiven Fehlerkultur basiert, wurde von den SSF-Unternehmensgründern implementiert und von der folgenden Generation fortgeführt und ausgebaut. Der Austausch mit allen Kolleg:innen wird regelmäßig gesucht und Wissen geteilt. Dailys in den Teams und Weeklys in den Standorten und standortübergreifend sind etabliert. Retrospektiven sind die Grundlage fortwährender Verbesserung.
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Eisenbahnbrücke über die IJssel (Niederlande). Foto: Florian Schreiber Fotografie / SSF Ingenieure AG
  • Planungsbüros sollten sich v. a. auch als Ausbildungsbetrieb verstehen. Bei SSF erwerben junge Mitarbeiter:innen profunde Kenntnisse im Bauingenieurwesen. Das Unternehmen sorgt für das notwendige Wissen zur Anwendung der an Hochschulen gelehrten Theorie in der Praxis. Dabei werden jungen Kolleg:innen im Mentoringverfahren erfahrene Mitarbeiter:innen zur Seite gestellt, die ihr Wissen mit dem Nachwuchs teilen. Ergänzt wird dies durch interne wie externe Schulungen und eine große Wissensbasis aus realisierten Projekten, die allen Mitarbeiter:innen in allen Details digital zur Verfügung steht.
  • Nötig sind ein aktives Recruiting und die Erschließung alternativer Recruitingkanäle. Dabei sollte auf eine transparente Kommunikation mit den Bewerber:innen und eine kurze Time-to-hire gesetzt werden. Auf die Preboarding und Onboardingphase sowie eine strukturierte Einarbeitung sollte großer Wert gelegt werden. Gleichzeitig muss man sich neuen Arbeitsmethoden öffnen und Mitarbeiter: innen darin schulen.
  • Das Empowerment von weiblichen Fach- und Führungskräften ist ein wichtiges Mittel, um Unternehmen in eine nachhaltige Zukunft zu führen. Hier hat die gesamte Branche Nachholbedarf.
  • Zum Gesamtbild gehören eine attraktive Vergütung mit betrieblicher Altersvorsorge, moderne, zentral gelegene Arbeitsplätze, flexible und hybride Arbeitszeitmodelle, regelmäßige, außergewöhnliche Mitarbeiter-Events und gemeinsame Sportaktivitäten.

Fazit

Dem steigenden Fachkräftemangel bei größer und komplexer werdenden Projekten sollten Planungsbüros den oben genannten Maßnahmen begegnen. Um die notwendigen Schritte gehen zu können, muss sich auch die Vergütung der Leistung zukünftig am neuen Mangel orientieren.

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Teamevent der SSF Ingenieure AG an der Zugspitze. Foto: Marc Gilsdorf

Es ist an den Planungsbüros, das notwendige Fachpersonal auszubilden. Nur mit der Erfahrung aus der Projektarbeit können die anstehenden Projekte effektiv und zielgerichtet und damit produktiv und lösungsorientiert bearbeitet werden.

Bauwerke zu schaffen, die Generationen überdauern werden, ist eine interessante und herausfordernde Aufgabe. Die Zusammenarbeit in einem Team aus Spezialist:innen sowie die Schaffung von Mehrwert für die Gesellschaft sorgen für Zufriedenheit im Berufsleben.


(Dieser Beitrag ist in der Ernst & Sohn Sonderpublikation "Attraktive Arbeitgeber im Bauingenieurwesen" im April 2023 in gedruckter Form erschienen.)