Risiko und Verantwortung: Warum eine Haftungsverbesserung für Bauingenieure notwendig ist
Bauingenieure unterliegen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen einer außergewöhnlich langen persönlichen Haftung für den Einsturz von Bauwerken mit Verlust von Leib und Leben. Eine zunehmende mediale Berichterstattung über solche Ereignisse (u. a. [1]) und die sich anschließenden, oft jahrelangen Gerichtsverfahren zur Schuldklärung wirken auf potenzielle Bauingenieurstudierende abschreckend.
Vor dem Hintergrund einer anstehenden umfassenden Änderung der Baubranche und eines spürbaren Fachkräftemangels erscheint es daher angeraten, die Haftungsregularien an andere Fachgebiete anzugleichen.
Bedeutung des Bauwesens
Die Bedeutung des Bauwesens für die Funktion menschlicher Gesellschaften ist nicht hoch genug einzuschätzen. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) beschreibt
diesbezüglich das Berufsbild Bauingenieur wie folgt [2]:
Bauingenieurinnen und Bauingenieure ... tragen ... große Verantwortung, nicht nur für den Erfolg ihres Projekts, sondern auch gegenüber der Gesellschaft. Ihre Ingenieurbaukunst übersteht oft Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, ist präsent, verändert Raum und Landschaft und trägt nicht zuletzt beträchtlich zur Lebensqualität und dem Funktionieren einer Gesellschaft bei.
John Calhoun, der für seine Experimente an Mäusen zu den Auswirkungen von Überbevölkerung und dem Zusammenbruch von Gesellschaften berühmt wurde, schrieb 1979 zur Bedeutung des Bauwesens [3]:
Keine einzige intellektuelle Tätigkeit übt einen größeren Einfluss auf das menschliche Wohlergehen aus als diejenige, die zu einer besseren Gestaltung der bebauten Umwelt beiträgt.
Allgemeine Anforderungen an Bauingenieure
Um dieser großen Verantwortung gerecht zu werden, müssen Bauingenieure fachlich befähigt sein. Darum finden sich Anforderungen an Bauingenieure in verschiedenen Rechtsvorschriften. So heißt es bspw. in der Sächsischen Bauordnung [4]:
Die Prüfämter müssen mit geeigneten Ingenieuren besetzt sein. Sie müssen von einem im Bauingenieurwesen besonders vorgebildeten und erfahrenen Beamten des höheren bautechnischen Verwaltungsdienstes oder einem vergleichbaren Angestellten geleitet werden.
In diesem Zusammenhang sei auf die Entwicklung der Sicherheitskultur im Bauwesen als Ergebnis des Atomunfalls von Tschernobyl hingewiesen. Ein Kernelement dieser Sicherheitskultur ist die höhere Wertung technischen Fachwissens gegenüber Managementwissen [5]. Das unabdingbare technische Wissen muss darüber hinaus gepaart sein mit einem adäquaten Verantwortungsbewusstsein [4]:
Prüfingenieure und Prüfsachverständige können nur Personen sein, die nach ihrer Persönlichkeit Gewähr dafür bieten, dass sie ihre Aufgaben ordnungsgemäß ... erfüllen.
Tatsächlich scheint die Berufsgruppe der Bauingenieure, wie viele andere im exekutiven Bereich, ein großes Verantwortungsgefühl zu besitzen, welches insbesondere nach dem Versagen ihrer Konstruktionen auf tragische Weise deutlich wird. So verstarb Thomas Bouch, der verantwortliche Ingenieur der Firth-of-Tay-Eisenbahnbrücke (Schottland), nur zehn Monate nach deren Einsturz im Jahr 1879. Theodore Cooper zog sich nach dem Einsturz seiner Québec-Brücke (Kanada) 1907 aus dem öffentlichen Leben zurück. Leon Moisseiff, der Entwurfsingenieur der Tacoma-Brücke (USA), verstarb drei Jahre nach deren Einsturz [6].
Haftung bei Verlust von Leib und Leben
Dieses persönliche Verantwortungsgefühl wird von strengen Rechtsvorschriften flankiert [7, 8]. Zwar besitzen Bauingenieure Berufshaftpflichtversicherungen, die auch Personen-, Sach- und Vermögensschäden umfassen. Gleichwohl bleiben Bauingenieure strafrechtlich haftbar – und das über sehr lange Zeiträume, teilweise bis zum Lebensende.
Aktuelle Beispiele für solche strafrechtlichen Auseinandersetzungen sind die Verfahren nach dem Einsturz einer Eissporthalle in Bad Reichenhall am 2. Januar 2006 und der Talbrücke Schraudenbach (Bayern) am 15. Juni 2016. Letzterer ereignete sich, wie viele der Brückeneinstürze, während der Bauphase.
Erst im April 2023 kam es zu einem solchen Brückeneinsturz in der Schweiz [9]. Bei Tunneln treten fast 90 Prozent aller Einstürze während des Baus auf [10]. Weltweit sterben jährlich mehr als 100.000 Menschen auf Baustellen [11].
Häufig kann der Schuldanteil im Bauprozess nicht direkt zugeordnet werden. Statistische Auswertungen von Baufehlern zeigen erhebliche Abweichungen für die Ursachen. In Tabelle 1 liegt der Anteil der Entwurfsfehler zwischen 17 und 67 Prozent.
Im Vergleich zu anderen Fachgebieten ist die Schuldfrage bei Bauingenieuren jedoch viel einfacher zu beantworten. Bauingenieure arbeiten überwiegend mit monokausalen Systemen und verwenden funktionalistisch-kausale Methoden, wie z.B. Berechnungssoftware, während in den Sozial- und Kulturwissenschaften strukturalistisch-morphologische Methoden für hochgradig multikausale Systeme genutzt werden (Bild 1). Das Bauingenieurwesen ließe sich in dieser Darstellung im Bereich der Festkörperphysik und anorganischen Chemie einordnen.
Das Problem der Schuldfrage und der Haftung besteht nun darin, dass sich funktionalistisch-kausale Zusammenhänge juristisch viel besser und eindeutiger prüfen lassen als hochgradig multikausale Zusammenhänge, wie sie z.B. in Verwaltungen und im Management auftreten [12].
In Bild 1 nimmt die Haftung von links unten nach rechts oben ab. Junge Menschen erkennen sehr wohl, dass Personen im politischen Bereich oder im Management selbst bei schweren Fehlern nicht oder kaum zur Verantwortung gezogen werden [12] und nehmen die Diskrepanz zu den Bauingenieuren wahr.
Konsequenzen
Aufgrund der deutlichen Diskrepanz zwischen persönlicher Haftung und gesellschaftlicher Verantwortung muss die lebenslange Haftung der Bauingenieure in Deutschland bzw. die 20-jährige Haftung in der Schweiz für Einstürze mit dem Verlust von Leib und Leben entweder entschärft oder eine haftungsproportionale Bezahlung für Bauingenieure eingeführt werden. Anderenfalls ist der Beruf für junge Menschen, denen durch die omnipräsente mediale Berichterstattung über Einstürze von Brücken solche Katastrophen bewusst sind, nicht mehr attraktiv.
Hinzu kommt, dass auch über die Gerichtsverfahren zu den Einstürzen breit berichtet wird. Am 3. Mai 2023 informierte bspw. die Tagesschau darüber, dass zwei Bauingenieure in Verbindung mit dem Einsturz der Autobahnbrücke bei Schraudenbach zu Haftstrafen verurteilt wurden [14]. Von Bedeutung ist in solchen Fällen auch die Angabe der Prozesskosten, die leicht eine Million Euro überschreiten können.
Die enormen Veränderungen im Bauingenieurwesen durch die Digitalisierung, neue Baustoffe, den Wandel der Normen, die zunehmende Internationalisierung, die steigenden Anforderungen an die Nachhaltigkeit oder an verbesserte Wärmedämmungen, neue Brandschutzbestimmungen, die Nachweise gegenüber Erdbeben usw. werden mit neuen Risiken einhergehen, die zu Fehlern und Einstürzen im schlimmsten Fall mit Todesopfern führen. Dieser Effekt ist seit vielen Jahren bekannt [15].
Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest fragwürdig, dass in der Schweiz die Einführung von Holzbrücken auf Hauptverkehrsstrecken der Autobahnen diskutiert wird, gleichzeitig Holzbrücken aber statistisch überproportional häufig einstürzen. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Datenbanken (Tab. 2) [16].
Die Gewinnung von jungen Menschen für diesen außergewöhnlich schönen Beruf und die erfolgreiche Arbeit als Bauingenieure kann in Zukunft nur gelingen, wenn sich die genannten Herausforderungen in einer angepassten Haftung oder einer haftungsproportionalen Bezahlung niederschlagen.
(Dieser Beitrag ist in der Ernst & Sohn Sonderpublikation "Attraktive Arbeitgeber im Bauingenieurwesen" im November 2023 in gedruckter Form erschienen.)
Literatur
[1] ARD aktuell (2023) Sechs Tote in den Trümmern [online]. Tagesschau, 10. April 2023. Hamburg: Norddeutscher Rundfunk. www.tagesschau.de/ausland/europa/gebaeudeeinsturz-marseille113.html
[2] SIA (o.J.) Berufsbild Bauingenieur. Zürich: Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein. www.sia.ch/fileadmin/Vereinspolitik_ Dokument_210623_PDF_Berufsbild_Ingenieur_vef_d_V1_def.pdf
[3] Melchor, A. (2022) Universe 25, 1968–1973 [online]. The Scientist, May 2, 2022. www.the-scientist.com/foundations/universe25-1968-1973-69941
[4] Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Durchführung der Sächsischen Bauordnung (Durchführungsverordnung zur SächsBO – DVOSächsBO). Fassung 5. Februar 2008. www.revosax.sachsen.de/vorschrift_gesamt/2089/26755.pdf [5] IAEA (1997) Safety Reports Series No. 1; Examples of Safety Culture Practices. Vienna: International Atomic Safety Agency.
[6] Kellerhoff, S. F. (2020) Diese Brücke brachte echtes AchterbahnFeeling [online]. Welt, 6. November 2020. Berlin: Axel Springer SE. www.welt.de/geschichte/article219420348/Einsturz1940-Diese-Bruecke-brachte-echtes-Achterbahn-Feeling.html [Zugriff am: 28. Juli 2023]
[7] Paessler, A. (2019) Baugefährdung: Strafbarkeit des Bauleiters [online]. Der Bauleiter, Februar 2019. Merching: Forum Verlag Herkert. www.derbauleiter.info/baugefaehrdung-strafbarkeitdesbauleiters [Zugriff am: 28. Juli 2023]
[8] Wilke, K. (2005) Haftung – auch bis hin zur Haft? [online]. Ingenieur.de, 22. Juli 2005. Düsseldorf: VDI Verlag. www.ingenieur.de/karriere/arbeitsrecht/haftung-haft/#:~:text=%E2%80%9EIngenieure%20untersch%C3%A4tzen%20die%20Gefahr%2C%20selbst,es%20um%20strafrechtliche%20Haftung%20geht [Zugriff am: 28. Juli 2023] [9] Kantonspolizei (2023) Poschiavo GR: Brücke mit fünf Arbeitern eingestürzt [online]. Burgdorf: SaSch Media GmbH. www.polizei-schweiz.ch/poschiavo-gr-bruecke-mit-fuenf-arbeiterneingestuerzt/#:~: text=In%20Poschiavo%20(GR)%20kam%20es,der%20Via%20da%20Clalt%20nach
[10] Spyridis, P.; Proske, D. (2021) Revised Comparison of Tunnel Collapse Frequencies and Tunnel Failure Probabilities.ASCE-ASME J. Risk Uncertainty Eng. Syst., Part A: Civ. Eng. 7, No. 2, pp. 04021004-1–04021004-9.
[11] Chang, Y. P.; Agarwal, J.; Crewe, A. (2023) Improving Safety Through Statistical Analysis of Construction Fatalities.Proceedings of the 14th International Conference on Application of Statistics and Probability in Civil Engineering. Dublin, July 9–13, 2023.
[12] Rieg, T. (2022) Berufsstand mit beschränkter Haft ung [online].Deutschlandfunk Kultur, 8. September 2022. Köln: Deutschlandradio.www.deutschlandfunkkultur.de/politiker-tragenwenig-
verantwortung-fuer-ihr-handeln-100.html [Zugriff am: 28. Juli 2023]
[13] Riedl, R. (2000) Strukturen der Komplexität – Eine Morphologie des Erkennens und Erklärens. Heidelberg: Springer.
[14] ARD aktuell (2023) Zwei Haft strafen und ein Freispruch nach Brückeneinsturz [online]. Tageschau, 3. Mai 2023. Hamburg: Norddeutscher Rundfunk. www.tagesschau.de/inland/regional/bayern/br-zwei-haft strafen-und-ein-freispruchnachbrueckeneinsturz-100.html
[15] Petroski, H. (2006) Success through Failure – the paradox of design. Princeton: Princeton University Press.
[16] Larstuen, E. (2022) Zehn Jahre alte Holzbrücke in Norwegen eingestürzt – Lkw-Fahrer blieb unverletzt [online]. Berlin: BusinessPortal Norwegen. www.businessportal-norwegen.com/2022/08/16/zehn-jahre-alte-holzbruecke-in-norwegeneingestuerztlkw-fahrer-blieb-unverletzt
[17] Güner, I.; Proske, D. (2023) AI/ML-assisted analysis of the IABSE bridge collapse database. Proceedings of the 14th International Conference on Application of Statistics and Probability in Civil Engineering. Dublin, July 9–13, 2023.