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Städtische Neubaugebiete: Balanceakt zwischen Wohnraumschaffung und Naturerhalt

Verfasst von: Fabian Hesse
Veröffentlicht am: 15. März 2023

Beispiel Hildesheim: Bürgerbedürfnisse und Naturschutz im Blick

Die Versiegelung weiterer Flächen für den Wohnungsbau ist längst nicht mehr unumstritten. Dennoch wird nach wie vor im großen Stil Bauland ausgewiesen und letztlich auch bebaut. In der kleinen Großstadt Hildesheim (ca. 100.000 Einwohner:innen) ist dies nicht anders. Die Stadtverwaltung will dadurch das gewünschte Bevölkerungswachstum fortsetzen.

Wasserkamp
Bild 1: Auf der hier zu sehenden noch unbebauten Fläche soll das neue Hildesheimer Stadtquartier "Wasserkamp" entstehen. Foto: Stadt Hildesheim

Das größte aktuelle Baugebiet mit rund 46 Hektar Gesamtfläche liegt am Stadtrand und ist bislang unbebaut (Bild 1). Damit die allgemeine Lebensqualität der künftigen menschlichen Bewohner:innen möglichst hoch und ihr nächstes Umfeld trotz notwendiger Bebauung möglichst biodivers ausfällt, fand während der Planungsphase eine gezielte Bürgerbefragung statt.

Dabei gaben mehr als 600 Anrainer und Interessierte ihr Feedback zum vorgelegten zukünftigen städtebaulichen Konzept. Mit ihren Kommentaren und Ideen könnten die Befragten aktiv den Entwicklungsprozess für das neue Wohngebiet "Wasserkamp" mitgestalten, so die Verantwortlichen seitens der Stadt. Gleichzeitig sei der Schutz des angrenzenden Flora-Fauna-Habitat-Gebiets (FFH-Gebiet) oberstes Gebot bei der Planung und noch ein weiteres angrenzendes Naturschutzgebiet muss berücksichtigt werden.

Mobilitäts-, Energie-, Wasser- und Biodiversitätskonzept soll Blaupause für grünes Wohnen werden

Mit dem finalen städtebaulichen Entwurf sowie einem quartiersbezogenen Mobilitäts-, Energie-, Wasser- und Biodiversitätskonzept soll der neue Stadtteil im besten Fall als "Blaupause für grünes Wohnen" fungieren. Unterstützung erhält die Stadt dabei von einem Planungskonsortium. Die Gesellschaft für Standortentwicklung Lokation:S hat als erste Phase im Sommer 2022 die Bürgerbeteiligung gesteuert.

Diese Ergebnisse flossen in die drei städtebaulichen Varianten ein, die das Stadtplanungs- und Architekturbüro MLA+ erstellt (vgl. eine der Varianten im Bild 2). Die Expert:innen von Drees & Sommer wiederum entwickeln städtebauliche Konzepte im Bereich Mobilität, Energie, Wasser und Biodiversität für das Quartier und überwachen die grundsätzliche Machbarkeit. Alle drei Büros arbeiten eng und partnerschaftlich zusammen, immer unter der Prämisse, die Wünsche der Bürgerschaft unter Berücksichtigung des Natur- und Umweltschutzes in ihre Konzepte einzuarbeiten.

Bei den Bürgerworkshops im Januar 2023 – der zweiten Phase der Beteiligung nach der Online-Befragung – konnten sich Interessierte informieren und vor Ort direkt mit den Projektbeteiligten der drei Büros austauschen: "Mehr grün-blaue Infrastruktur, seniorengerechtes Wohnen oder Anregungen zu den geplanten Radwegen – diese und andere Wünsche aus dem Bürgerworkshop haben wir in unsere Quartiersempfehlungen zu Mobilität, Energie, Wasser und Biodiversität aufgenommen", berichtet Umweltingenieurin Ramona Giese von Drees & Sommer.

Planungsbüro: Idee der Schwammstadt wird berücksichtigt

Das Team des Stuttgarter Beratungsunternehmens hat den "Wasserkamp" als Schwammstadt geplant. Dies bedeutet, dass innerhalb des Wohngebiets große sogenannte Retentionsflächen angelegt werden, die dafür sorgen, dass Regenwasser über die begrünten Flächen versickert, rückgehalten wird oder verdunstet. Wie ein Schwamm sollen diese Flächen also das Wasser speichern. Ziel ist der Schutz gegen Trockenperioden oder Starkregen.

Kombiniert mit begrünten Dächern und dem Anlegen von im gesamten Areal verteilten Biotopen soll zudem die Basis für naturnahe Lebensräume gelegt werden. Eine weitere Idee: Große Blumenwiesen und biodiversitätsreiche Grünflächen könnten Wildbienen und Insekten anlocken und für eine ökologische Vernetzung mit dem bereits bestehenden angrenzenden FFH-Gebiet sorgen. Schließlich wären Maßnahmen wie gemeinsames Gärtnern auf Urban Gardening-Flächen denkbar, um den sozialen Zusammenhalt unter den Quartiersbewohner:innen zu fördern und gleichzeitig eine größtmögliche Artenvielfalt auf dem "Wasserkamp" zu sichern.

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Bild 2: Viele Grünflächen, unterschiedliche Wohnungsbaukonzepte: So könnte das neue Wohnquartier Wasserkamp aussehen. Foto: MLA+

Im Sinne eines autoarmen Quartiers planen die beauftragten Mobilitätsexperten für Fußgänger und Radfahrer mehr Platz ein. Außerdem soll die direkte Fahrrad-Anbindung zur Stadtmitte verbessert werden. Das Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege. Ob per Fahrrad oder zu Fuß, ob zur Kita oder zur Wohnung, im geplanten Konzept sind laut Planender alle Orte des täglichen Lebens schnell und umweltfreundlich zu erreichen. Angebote für Car-Sharing und auch Lastenräder sollen die Bereitschaft steigern, auf das eigene Auto zu verzichten.

Energieversorgung: Sonne, Erde und Wasser sollen Wärme und Strom liefern

Mittels Quartiersgaragen könnten auch sogenannte Mobilitäts-Hubs geschaffen werden: Indem man die Stellplätze der Bewohner:innen in großen Garagen bündelt, wird Platz im öffentlichen Raum eingespart. Elektro-Ladesäulen könnten in den Mobilität-Hubs integriert werden. Die geplante Anbindung an den ÖPNV mit voraussichtlich eigenen Haltestellen im Quartier sowie ein Radwegenetz sind weitere Schritte, die Hildesheim stadtplanerisch auf einen neuen Kurs bringen sollen.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Energieversorgung. Mit Photovoltaikanlagen und Erdwärme soll insgesamt mehr Energie erzeugt als verbraucht werden. Auch hier kommt wieder das Wasser ins Spiel: Mögliche Grundwasserwärmepumpen könnten 100 Prozent erneuerbare Wärme erzeugen, die direkt an die Gebäude des Plus-Energie-Quartiers übergeben wird.

In welche Richtung sich das Baugebiet letztlich entwickeln soll und welche Pläne umgesetzt werden, berät aktuell der Ausschuss für Stadtentwicklung in einer gemeinsamen Sitzung mit beteiligten Ortsräten, der Verwaltungsausschuss entscheidet abschließend. Das beschlossene städtebauliche Konzept wird voraussichtlich im Herbst 2023 finalisiert sein. Ab dann beginnt die planerische Umsetzung des Quartiers und auch die Vermarktung. Etwa 600 bis 700 Wohneinheiten unterschiedlicher Typologien, vom Geschosswohnungsbau bis Einfamilienhäuser, sollen ab 2025 am "Wasserkamp" in Hildesheim entstehen.