Tragfähigkeit von Brücken: Hessen setzt auf experimentelle Ermittlung
# 09.09.2016
Zukunftsthema Brückensanierung in zentralem Bundesland noch bedeutsamer. Verkehrsbehörde rückt Berechnung auf Einwirkungsseite in den Fokus. Beitrag zum Verfahren auf VDI-Konferenz im Herbst vorgesehen
Zahlreiche sanierungsbedürftige Fernstraßen in Hessen
In Deutschland gibt es etwa 39.500 Straßenbrücken. Viele der zwischen 1965 und 1985 errichteten Bauwerke weisen heute Defizite auf. Auch Hessen ist hiervon stark betroffen, da zahlreiche Bundesfernstraßen durch das Land verlaufen.
Wie können sich die Beteiligten am besten auf die Herausforderung einer Analyse und anschließenden Sanierung einstellen? Hessen Mobil - Straßen - und Verkehrsmanagement widmet sich hier vermehrt Nachweisformaten auf der Einwirkungsseite. Dazu gehört auch, Messungen zur Validierung des tatsächlichen Tragverhaltens vorzunehmen. Anhand folgender zwei Beispiele lässt sich die Bedeutung dieses Ansatzes erklären:
Praxisbeispiel 1: B 49, Hochstraße Wetzlar
Die Hochstraße Wetzlar ist 1.066 Meter lang. Ihr Tragwerksüberbau verläuft konstant 1,80 Meter hoch und insgesamt 18,50 Meter breit (siehe Abbildung 1). Das im Grundriss s-förmig verlaufende Spannbetonbauwerk ist mit 31 Feldern ausgeführt. Sie nehmen jeweils beide Fahrtrichtungen auf. In der Mitte gibt ein Fahrbahnübergang die vorhandenen Bewegungen frei.
Die 1972 fertig gestellte Hochstraße ist, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, mit querträgerlosen, schlanken zweistegigen Spannbetonplattenbalken ausgebildet. Sie sind über querfeste Lager mit den Unterbauten gekoppelt. Die Spannweiten betragen meist 31,80 Meter.
Die innerstädtische Lage verlangte aber an vier Stellen eine Anhebung, so dass das Bauwerk maximal 84 Meter überspannen muss. Dafür kommen achtzellige Spannbetonhohlkästen zum Einsatz. Im Bereich des westlichen Überbaus wurden zudem zwei Rampen angeschlossen.
Defizite bei Querkraft und Torsion ermittelt
Materialprüfungen wiesen eine erhöhte Betonfestigkeit von C 45/55 gegenüber ursprünglich B 450 (C 30/37) aus. Zur Einschätzung ihres Tragverhaltens wurde die Hochstraße Wetzlar zunächst nach den Stufen 1 und 2 der Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie, NARili) Ausgabe 05/2011 überprüft.
Das Bauwerk erreichte dabei nicht das geforderte Ziellastniveau LM 1, was eine Ermüdung unter Annahme großer Entfernung (Spannweite) und großem Lkw-Anteil in der Nutzung beschreibt. Beim Grenzzustand der Tragfähigkeit zeigten sich Defizite bei Querkraft und Torsion. Das heißt, die vorhandene Bügel- und Torsionslängsbewehrung ist nicht ausreichend.
Die Anwendung des Ermüdungslastmodells machte dann eine Ermüdung des Beton- und Spannstahls sowie des Schubs deutlich. Unter Gebrauchslasten waren Rissbreiten und Dekompression nicht nachweisbar.
Reale Einwirkungen durch objektbezogene Verkehrssimulation gemessen
Baurechtliche Hürden gaben schließlich den Anstoß dafür, im Nachweiskanon der NARili auch die realen Einwirkungen zu betrachten. Es war nun rechnerisch zu betrachten,
- ob ein objektspezifisches, erforderliches Ziellastniveau anhand der vorliegenden Verkehrsdaten (2010: durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke DTV von 19.667 Kfz/24h; davon 2.404 LKW) für die Simulation des Ist-Zustands ermittelt werden kann;
- ob das Bauwerk in der Lage ist, dieses Ziellastniveau zu erfüllen;
- ab wann das Ziellastniveau verlassen wird (Prognose mit steigenden Verkehrszahlen) und
- wann die restliche Nutzungsdauer des Bauwerks endet.
Das Ermüdungslastmodell weist der Hochstraße Wetzlar wiederum eine maximal mögliche Standzeit bis 2027 zu - bei der aus der Simulation ermittelten Verkehrsdichte und einer Anpassung der Gesamtgewichtsverteilung der ermüdungsrelevanten Lkw-Fahrzeuge.
Wenn die Verkehrsstärke gemäß Bedarfsplanvorgaben um 1,5 Prozent ansteigt, würde die Brücke erst im Jahre 2060 die BK 30/30 verlassen und dann außer Betrieb genommen werden.
Praxisbeispiel 2: BAB A 661, Kaiserleibrücke bei Frankfurt
Mit 220 Metern ist die Kaiserleibrücke bei Frankfurt das weitest spannende Bauwerk Hessens. Ein Bogen mit Zugband trägt die angehängte, beide Fahrtrichtungen aufnehmende Fahrbahn (siehe Abbildung 2). Der Doppelrohrquerschnitt wird über horizontale Stege und Querrahmen ausgesteift, was zu einem schlanken und effizienten Tragwerk führt.
Die Stahlfahrbahn nimmt den Bogenschub mittels einer orthotropen Platte aus engmaschigen Flachblechen und einem gut Last verteilenden Trägerrost aus Haupt- und Querträgern Homberg'scher Prägung auf.
Ermüdungsnachweis beim Bau nicht vorgesehen
Wie in der Ingenieurbaukunst um 1960 üblich, sind Material und Festigkeiten gemäß den Beanspruchungen gestaffelt. Der damalige Stand der Technik sah keinen Ermüdungsnachweis vor.
Die Überprüfung mit Stufe 1 der NARili Ausgabe 05/2011 ergab für die Kaiserleibrücke:
- Für den (unwahrscheinlichen) Lastfall eines Unfalls in der Brückenmitte entstehen Spannungsüberschreitungen an den Versteifungs- (Haupt-)Trägern und den ersten, äußeren Längsträgern. Sie sind auf die formal bemessungsrelevante und asymmetrische Laststellung in Bogenlängsrichtung zurückzuführen.
- Es gibt lokale Instabilitäten durch Beulen der inneren Bogenflachsteifen und an verschiedenen Stellen der Querträger.
- Die Ermüdungssicherheit wird an diversen Konstruktionsdetails und der orthotropen Fahrbahn überschritten.
Exzellente Konstruktion nur mittels Stufe 3 der NARili ersichtlich
Erst ein objektspezifisches Lastmodell in Kombination mit einer experimentellen Tragfähigkeitsermittlung gemäß Stufe 3 der NARili erfasste die exzellente Querverteilung der Homberg'schen Kreuzwerke und die ersten Ansätze des ermüdungsgerechten Konstruierens der Ingenieure von MAN (Werk Gustavsburg) korrekt.
Indem Reserven bei der Querverteilung gehoben werden, können sowohl die Überschreitungen bei den Spannungen als auch bei der Ermüdungssicherheit relativiert werden. Sollte zudem der Fahrbahnbelag beispielsweise mit ultrahochfestem Beton angehoben werden, würde das der Kaiserleibrücke erlauben, ihr planmäßiges Nutzungsende zu erreichen.
Fazit: Erfahrungen der Bewertung für Zukunft nutzen
Das Know-how, das im Zuge der Bewertungen aufgebaut wurde, soll in Hessen zukünftig weiter genutzt werden. Nur durch diese Art der Erfassung des Tragverhaltens konnte bei der Hochstraße Wetzlar die Wirksamkeit von oben offenen Bügeln belegt werden, die aus heutiger Sicht keine ausreichende Endverankerung besitzen.
Ebenso war den Ingenieuren bei der Kaiserleibrücke über den Main bei Offenbach ein ermüdungsgerechtes Konstruieren und überschlägiges Bemessen bei anteiliger Verkehrslast nachweislich bewusst. Ein messwertunterstütztes, objektbezogenes Ermitteln der Verkehrseinwirkungen konnte hier die vorhandenen Beanspruchungen (Verformungen und Dehnungen) des Bauwerks realitätsnah erfassen.
Somit führt Stufe 3 der Nachrechnungsrichtlinie abschließend zu einer wirtschaftlichen Instandsetzung der Brücke. Dabei spielen die Anpassung des Tragwerksmodells auf den Grenzzustand der Tragfähigkeit, die Gebrauchstauglichkeit, das Ermüdungslastmodell 4 sowie die Stabilität eine Rolle.
Die genannten Schritte erlauben eine realistische Einschätzung des Tragverhaltens von Brücken. Deshalb sollte der Einwirkungsseite, insbesondere im Zuge von Bundesfernstraßen in Deutschland, mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden: Je genauer die Analyse ist, umso ökonomischer können Verbesserungsmaßnahmen und umso zielgerichteter Prognosen ausfallen.
Dipl.-Ing. Eberhard Pelke
ist Dezernatsleiter Planung Ingenieurbauwerke bei Hessen Mobil - Straßen - und Verkehrsmanagement, Wiesbaden, einer oberen Verwaltungsbehörde des Landes Hessen, welche die Bundesfern-, Landes- und meisten Kreisstraßen in Hessen betreut.