Warum Digitalisierung und digitale Transformation nicht dasselbe sind
Digitalisierung ist eines der großen Themen unserer Zeit. Damit verbunden ist die Hoffnung des Managements, mit weniger manuellem Aufwand den aktuellen Output zu produzieren, weniger Fehler beim internen Datenaustausch zu machen und durch Kostensynergien profitabel zu wachsen.
Dies sind große Erwartungen, die Realität sieht jedoch meist deutlich nüchterner aus: Die Digitalisierungsprojekte binden hohe Kapazitäten, die Einführung ungewohnter Technik stößt bei den Betroffenen auf Widerstand, Kostensynergien bleiben aus und nicht bedachte strategische Fern- und Nebenwirkungen machen das Leben und Arbeiten schwer.
Bevor wir uns in diesem Beitrag den strategischen Aspekten der Digitalisierung zuwenden, erscheint es zunächst angebracht, das Thema und die damit verbundenen operativen Probleme differenzierter zu betrachten, indem wir zwei Begriffe aus dem Englischen heranziehen, die beide mit "Digitalisierung" ins Deutsche übersetzt werden, aber etwas Unterschiedliches meinen: digitisation und digitalisation.
Digitisation: analog in digital umwandeln
Digitisation bezeichnet den Prozess der Umwandlung analoger Informationen in ein digitales Format. Dabei werden physische Objekte oder analoge Daten wie Texte, Bilder oder Töne in einen binären Code umgewandelt, der von Computern verstanden werden kann.
Ziel der digitisation ist es, eine digitale Repräsentation analoger Inhalte zu erstellen, um diese leichter speichern, abrufen und bearbeiten zu können.
Beispiel: Statt handschriftlicher Notizen oder Zeichnungen können Bauingenieure mit mobilen Geräten oder Tablets den Zustand von Baustellen oder Bauwerken digital erfassen. Mit speziellen Apps oder Softwarelösungen können Informationen wie Messungen, Skizzen und Fotos direkt digital erfasst und gespeichert werden.
Der deutsche Mittelstand ist bei digitisation-Projekten über die Jahre durchaus gut vorangekommen. Dass sich die erhofften positiven Effekte oft nicht entfalten können, liegt daran, dass zusätzlich in durchdachte Prozesse investiert werden muss, was als enormer Mehraufwand empfunden und daher gerne vermieden wird. Hierzu folgendes Beispiel:
Früher landete die Post im Firmenbriefkasten. Ein Lehrling holte sie ab und legte sie in den Eingangskorb am Empfang. Die Mitarbeiter gingen daran vorbei, holten ihre und die der Kollegen heraus. Manches blieb zunächst liegen oder wurde wie heiße Kohlen weitergereicht, bis es den Zuständigen erreichte – oder den, der sich nicht wehren konnte.
Die Post wird nun an einen Dienstleister weitergeleitet, der sie öffnet, scannt und als Datei ablegt. Die Dateien werden entweder direkt an eine vordefinierte E-Mail-Adresse des Unternehmens gesendet oder in der Cloud-Dokumentenverwaltung des Dienstleisters abgelegt und eine Push-Benachrichtigung an das Unternehmen generiert, so dass sich ein Mitarbeiter anmelden und auf die Dokumente zugreifen kann.
Das Beispiel zeigt, dass die "hemdsärmelige" Handhabung aus der analogen Zeit nicht mehr funktioniert. Damit sich ein neuer digitaler Prozess oder eine Maßnahme positiv auf die Arbeitseffizienz auswirkt, müssen unter anderem Dateibenennungen und Ablagestruktur im Unternehmen einheitlich festgelegt, Rollen, deren Zuständigkeiten und Vertretungsregelungen klar definiert und Zugriffsrechte DSGVO-konform organisiert werden. Dies leitet zum nächsten Begriff über.
Digitalisation: Neugestaltung von Prozessen
Digitalisation umfasst die Neugestaltung und Optimierung von Prozessen, die Integration digitaler Technologien in verschiedene Aspekte eines Unternehmens sowie die Nutzung von Daten und Analysen zur Entscheidungsfindung. Sie geht über eine einfache Umstellung hinaus und konzentriert sich auf die Nutzung digitaler Technologien zur Erreichung von Geschäftszielen.
- Beispiel: Ein Ingenieurbüro führt eine digitale Zeiterfassungs- und Projektmanagement-Software ein, um den Fortschritt seiner Projekte besser verfolgen zu können. Die Mitarbeiter sollen ihre Arbeitszeiten elektronisch erfassen und die Projektleiter sollen einen besseren Überblick über den Ressourceneinsatz, die Projektbudgets und den Projektfortschritt erhalten.
Was ist nun als Ergebnis einer solchen Digitalisierungsoffensive zu erwarten, wenn in diesem Unternehmen die bisherige Effektivität und Effizienz des Projektmanagements stark zu wünschen übrig lässt? Etwa weil die Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen der Beteiligten nicht einvernehmlich geklärt sind, mit der Folge, dass wertvolle Arbeitszeit in unnötigen Besprechungs- und Abstimmungsrunden vergeudet wird.
Setzt das Unternehmen eine schlanke Standardsoftwarelösung ein, werden die eingespielten Arbeitsroutinen nicht aufhören. Wahrscheinlicher ist, dass die Software zwar eingesetzt wird, die Besprechungs- und Abstimmungsrunden aber parallel offline weiterlaufen. Die erhoffte Produktivitätssteigerung bleibt aus.
Oder das Unternehmen investiert deutlich mehr in eine Individuallösung, die auch die digitale Abbildung und Verwaltung von Besprechungs- und Abstimmungsrunden beinhaltet. In diesem Fall werden lediglich ineffektive und ineffiziente Tätigkeiten in die Prozesse einbetoniert.
Die Digitalisierung von Prozessen und Abläufen ist also nur ein Teilaspekt der digitalen Transformation, die einen umfassenderen Wandel im Unternehmen darstellt.
Digitale Transformation: Neuland betreten
Digitale Transformation ist ein weiter gefasster Begriff, der sich auf den tiefgreifenden Wandel durch den Einsatz digitaler Technologien bezieht. Sie geht über die bloße Digitalisierung von Prozessen hinaus und umfasst häufig auch die Neugestaltung von Geschäftsmodellen und die Anpassung an die sich wandelnden Bedürfnisse der digitalen Welt.
Die digitale Transformation kann sowohl interne als auch externe strategische Veränderungen umfassen und betrifft Bereiche wie Geschäftsstrategie, Unternehmenskultur, Arbeitsmethoden, Kundeninteraktion und vieles mehr. Die Transformation kann aktiv durch das Unternehmen selbst oder reaktiv aufgrund eines veränderten Kunden- oder Wettbewerbsverhaltens eingeleitet werden. Im Folgenden werden die einzelnen Bereiche betrachtet.
Strategische Anpassungen des Geschäftsmodells
Bedeutung: Auseinandersetzung mit den Folgen veränderter Marktbedingungen und Erkennen der Notwendigkeit innovativer Strategien.
- Beispiel: Wie könnten Bauunternehmen, Planungsbüros und Auftraggeber die Möglichkeiten des "Internets der Dinge" (Internet of Things bzw. IoT) nutzen, um Echtzeitdaten auf Baustellen zu sammeln?
Durch die Integration von IoT-Sensoren in Baumaschinen, Geräten und weiteren Strukturen könnten Informationen über den Zustand der Ausrüstung, den Energieverbrauch, die Sicherheit und vieles mehr gesammelt werden. Diese Daten könnten für eine effiziente Wartung, Leistungsüberwachung und Optimierung genutzt werden.
Strategische Anpassungen der Arbeitsorganisation
Untersuchung der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsorganisation im Unternehmen.
- Beispiel: Lohnt es sich für ein Unternehmen, den Ingenieuren und Technikern vor Ort durch den Einsatz mobiler Geräte den Zugriff auf digitale Informationen und die Erfassung von Daten zu ermöglichen?
Dadurch könnte eine effizientere Kommunikation mit dem Büro und die Aktualisierung von Projektdaten in Echtzeit erreicht werden. Darüber hinaus könnten mobile Anwendungen zur Inspektion, Qualitätssicherung oder Messdatenerfassung eingesetzt werden, was die Genauigkeit und Effizienz von Arbeitsabläufen verbessern würde.
Strategische Anpassungen der Personalpolitik
Prüfung, ob aufgrund von Anpassungen der Arbeitsorganisation Qualifizierungsmaßnahmen oder andere personalpolitische Maßnahmen erforderlich sind, um die Beschäftigten auf den digitalen Wandel vorzubereiten.
- Beispiel: Lohnt es sich für ein kleines Ingenieurbüro, eine interne Wissensdatenbank einzurichten, in der die Beschäftigten auf Ressourcen, Handbücher, Anleitungen und Best Practices zur Nutzung digitaler Werkzeuge und Technologien zugreifen können?
Strategische Anpassungen in der Unternehmenskultur
Überlegungen, wie Unternehmen zum Beispiel ältere Arbeitnehmer einbeziehen, die Offenheit gegenüber neuen Technologien fördern und die aktive Beteiligung der Arbeitnehmer sicherstellen können.
- Beispiel: Wäre es für ein Ingenieurbüro sinnvoll, ein Mentorenprogramm einzuführen, um den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen zu fördern und eine Kultur der Zusammenarbeit und des Lernens zu schaffen?
So können die Älteren als Mentoren ihr Fachwissen weitergeben und gleichzeitig von den Jüngeren den effektiven Umgang mit digitalen Werkzeugen und Technologien lernen.
Strategische Anpassungen der Karrierewege
Untersuchung der Möglichkeiten für Unternehmen und ihre Führungskräfte, Fachkräfte im digitalen Zeitalter anzuwerben und zu halten.
- Beispiel: Sollte ein Ingenieurbüro Karrierewege für Mitarbeitende schaffen, die sich in digitalen Bereichen spezialisieren möchten?
Dies kann die Schaffung von Positionen wie Digitalisierungsmanager, BIM-Spezialist oder Datenanalytiker beinhalten, die den Mitarbeitenden klare Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven bieten.
Strategische Anpassungen der Arbeitsplatzgestaltung
Untersuchung der Auswirkungen der Umstrukturierung von Arbeitsprozessen auf den Arbeitsplatz der Zukunft.
- Beispiel: Was muss ein Ingenieurbüro beachten, wenn es Telearbeit bzw. Homeoffice anbieten will, wobei die Beschäftigten von zu Hause oder anderen Orten aus arbeiten können?
80 Prozent Zuschuss vom Staat für den digitalen Wandel
Es ist klar, dass Unternehmen ihre Produkte, ihre Strukturen und ihre Prozesse anpassen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Für viele kleine und mittlere Unternehmen ist es jedoch eine Herausforderung, mit den Veränderungen Schritt zu halten. Häufig fehlen ihnen die (finanziellen) Ressourcen, um nachhaltige Veränderungen im Unternehmen zu planen und umzusetzen.
Hier setzt das staatliche Förderprogramm INQA-Coaching an: Mit Hilfe des Förderprogramms können Unternehmen in einem agilen Setting maßgeschneiderte Lösungen für ihre personalpolitischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungsbedarfe im Zuge des digitalen Wandels entwickeln. Die Förderung umfasst zwölf Beratungstage à 1.200,00 Euro netto. Der (nicht rückzahlbare) Zuschuss beträgt 80 Prozent davon. Insgesamt sollten für den Beratungsprozess circa fünf bis sechs Monate eingeplant werden.
Der Autor des Beitrags
Kourosh Ghaffari (gbcc) ist autorisierter INQA-Coach und unterstützt mit seiner A.D.L.E.R.-Methode Unternehmen bei der Lösung komplexer Problemsituationen.
Die dabei zu beantwortenden Fragen lauten:
Wie ist das Problem entstanden? Welche Faktoren halten es aufrecht? Welche Handlungsoptionen gibt es?
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